7. Dezember 2016

Höhen und Tiefen

Pluspunkte für die Bodenseeregion. Ein anderes Bayern ist möglich

Jörn Boewe, junge Welt, Reisebeilage 7. Dez. 2016

Ans Meer oder in die Berge? Die Antwort ist klar: Als Berliner sind wir eher Ostseetypen. Mobiltelefon ausschalten, den Blick übers große Wasser schweifen lassen, sich in den Sand fallen lassen, Möwengeschrei. Die Einheimischen sprechen ein bisschen anders als wir, aber wir haben einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, haben uns mit denselben Unrechtsregimes arrangieren müssen. Und auch das wird nicht einfacher. Inzwischen sind die Einheimischen genau wie wir, die mittelbaren Ostseeanrainer, in der Hochsaison nur noch eine verschwindende Minderheit. Die Ostseeküste ist überrannt, überteuert und die Seebäder zwischen Kühlungsborn und Heringsdorf »versylten« von Jahr zu Jahr mehr.

Glücklicherweise gibt es tatsächlich so etwas wie ein Kombipaket aus »Meer und Bergen«. Auf der Autobahn A 96, irgendwo hinter Memmingen, gibt es eine Anhöhe. Hier hat man einen freien Blick auf den Bodensee: Eine riesige Wasserfläche und die gegenüberliegende Seite, das Südufer, ist unmittelbar umgeben von schroffen Hochgebirgsgipfeln. So etwas hatte ich noch nicht gesehen.

Mit mehr als 60 Kilometer Länge und 14 Kilometer Breite ist der Bodensee der größte Binnensee, zu dem man von deutschem Hoheitsgebiet Zugang hat. Drei Staaten teilen ihn sich: 72 Kilometer der Uferlinie gehören der Schweiz, 28 verlaufen durch Österreich, 173 durch Bayern und Baden-Württemberg. Angeblich wird der See von den Ureinwohnern »Schwäbisches Meer« genannt, was keine sehr originelle Behauptung ist. Dennoch hat der See ein maritimes Flair, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass das Führen von Wasserfahrzeugen hier einer besonderen Schifffahrtsordnung unterliegt.


Das Bodenseeschifferpatent braucht man allerdings nicht fürs Windsurfen. Gerade für Anfänger sind die Bedingungen hier optimal – wenig Wellen, viel Wasser und im Normalfall in Ufernähe leichte Brisen. An Land, entlang der Uferlinie, ist das Fahrrad Fortbewegungsmittel der Wahl. Wer will, kann das Gewässer auf dem Bodensee-Radweg komplett umrunden, wofür man realistischerweise mindestens eine Woche einplanen sollte.


Auch mit kleinerem Aktionsradius kann man den Landstrich nach verschiedenen Seiten erkunden. Vom Dörfchen Enzisweiler (Bodolz) aus, nur drei, vier Kilometer vom mondänen, unbezahlbaren Lindau entfernt, kann man mit dem Rad lässige Tagestouren Richtung Westen, nach Friedrichshafen, oder in den Osten, nach Bregenz in Österreich, unternehmen. Die Landschaft ist durch Wein- und vor allem Obstanbau geprägt, was ein angenehmeres Bild ergibt als etwa Maismonokultur. In Bregenz lohnt es sich, die Seebühne zu besuchen, und den Pfänder zu besteigen. Dieser Berg ist mit 1064 Metern zwar nicht besonders hoch, der steile Auf- und Abstieg hat es aber in sich. Fürs Entspannungsprogramm bieten sich »wilde« Badestellen zwischen Vorarlberg und Bayern an – etwa die am Gasthaus »Alte Fähre« in Lochau.


Die Region hat einen weiteren Pluspunkt: Sie ist komplett ans Eisenbahnnetz angeschlossen, genaugenommen an drei Netze – das der Deutschen Bahn und an die beiden vorbildlich organisierten der Österreichischen und Schweizer Bundesbahn. Wenn Sie es bequem haben wollen und es auf ein paar Stunden mehr nicht ankommt, nehmen Sie den Nachtzug. Was die DB gerade abgeschafft hat, gibt es weiterhin bei der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB). In deren »Nightjet« kann man sogar – für DB-Kunden kaum zu glauben – Fahrräder mitnehmen. Wegen der Nahverkehrsanbindung in Basel muss man sich keine Sorgen machen.


Es gibt zwei Wege, auf denen man sich Lindau, der Hafenstadt am Ostufer des Bodensees, mit Stil nähern kann: Übers Wasser oder auf der Schiene. Aber nur, wer mit der Bahn hierher kommt, versteht sofort, warum sich die Stadt »Lindau im Bodensee« nennt – die pittoreske Altstadt liegt tatsächlich auf einer Insel, die man mit dem Zug über einen 400 Meter lang aufgeschütteten Bahndamm erreicht. Am landseitigen Ende dieses Damms gibt es – ich schwör‘s! – eine manuell betriebene Schranke mit einem Bahnwärter, der bei schönem Wetter vor seinem Häuschen sitzt und sich seelenruhig von den ungeduldig wartenden Passanten beschimpfen lässt. Wenn Sie dort vorbeifahren und aus dem Abteilfenster sehen, wissen Sie: Es gibt ein anderes Bayern, fernab von BMW, Oktoberfest und dem FC Bayern München.

11. Februar 2016

Maschine stop im Kattegat

Möwengeschrei und Brandungsrauschen: Wer Inseln mag, auf denen nichts los ist, sollte nach Læsø fahren

Von Jörn Boewe, junge Welt, Reisebeilage, 10. Feb. 2016

Wo Ostsee und Nordsee zusammenfließen, befindet sich das Kattegat. Man könnte es auch eine Art maritimes Dreiländereck nennen. Mitten in diesem kleinen Zwischenmeer, zwischen Norwegen, Schweden und Dänemark, liegt die kleine Insel Læsø.


Ein Ort für Partytouristen ist Læsø sicher nicht, und das nicht nur wegen der skandinavischen Alkoholsteuern. Abgesehen von Grönland ist es die am dünnsten besiedelte Region Dänemarks. 1.795 Einheimische leben hier auf 101 Quadratkilometern.


Læsø ist ein Platz zum Ausspannen. Wer hier raufkommt, will runterkommen. Normalerweise gelingt das spätestens ab dem Moment, wenn das nordjütländische Frederikshavn im Kielwasser der Fähre am Horizont verblasst. Man gewinnt Abstand, auch geographisch, und das monotone Wummern der Schiffsdiesel hilft dabei besser als jede Entspannungsmusik. Anderthalb Stunden dauert die Überfahrt, dann erreicht man Vesterø Havn, Fährterminal und Heimathafen von zwanzig Fischkuttern.


Selbst im Hochsommer ist die Insel nicht überrannt – jedenfalls nicht, wenn man deutsche Ostseeküste oder Nordseeinseln als Maßstab nimmt. Von den 100 Kilometern Küstenlinie sind gut ein Viertel feinster Sandstrand. Das Wasser ist klar, wie man es in großen Seebädern nirgends findet.



Von Berlin sind es rund 800 Kilometer mit dem Auto nach Frederikshavn, es gibt aber auch Bahn- und Busverbindungen. Für 300 Euro die Woche können Sie eines der verstreuten Ferienhäuser mieten, in der Vor- oder Nachsaison auch für weniger. Viele stehen nah am Strand, kurz hinter den Dünen. Ein Kanonenofen, der mit Kaminholz befeuert wird, gehört zur üblichen Ausstattung und ist an den kühleren Frühlings- und Spätsommerabenden auch sinnvoll. Viele Vermieter stellen außerdem unentgeltlich Fahrräder bereit – es lohnt sich zu fragen, bevor man bucht.


Læsø ist nicht autofrei – aber motorisierte Verkehrsteilnehmer sind deutlich in der Unterzahl. Fahrräder sind das Fortbewegungsmittel der Wahl. Die Insel hat genau die Größe, dass man jedes Ziel auf einer Tagestour gut erreichen und wieder zurückkehren kann. Faszinierend sind die unterschiedlichen Landschaftsformen: Im Nordosten türmen sich Sanddünen bis zu einer Höhe von 24 Metern hinter einem schmalen, weißen Strand, der den seltsamen Namen »Danzigmann« trägt.


Am gegenüberliegenden Ende, 25 Kilometer südwestlich, breitet sich ein weites, flaches Wattenmeer aus. Anders als in der Ostsee, gibt es im Kattegat merklichen Tidenhub, und bei Ebbe können Sie hier den Sommer und Herbst hindurch Queller pflücken – auch als Meeresspargel bezeichnet. Zu Hause würden Sie im Feinkosthandel locker vier, fünf Euro für hundert Gramm bezahlen – hier bekommen Sie ihn umsonst und das ganze Drumherum – Salzluft, Möwengeschrei – noch dazu. Wenn Sie wieder in Ihrer Hütte ankommen, waschen Sie ihn nicht mit Süß-, sondern mit Seewasser, schneiden Sie ihn in fingerlange Stücke, die Sie in heißer Butter schwenken. Dazu ein paar Jomfruhummer, die Sie fangfrisch bei Thorsen Fisk in Østerby Havn bekommen. Sie müssen nur noch entscheiden, wie Sie sie lieber mögen: zwei, drei Minuten in Salzwasser gekocht und mit ein bisschen Dill drübergestreut oder mit Knoblauch in der Pfanne gebraten. Sie werden es herausfinden.

31. Januar 2016