30. November 2007

Nerja, Andalucía, Nov. 2007. El olvido, campo de la memoria

Der November 2007 war ein besonders grauer Monat, aber durch geschickte Ausnutzung des deutschen Arbeitsrechts gelang es mir, mich für eine Woche nach Andalusien abzuseilen.

Ich bestieg am 25. November im Morgengrauen die Maschine nach Palma. Es schneite, irgendein Ventil einer Hilfsturbine des Airbus A-320 fror ein, und dann dauerte es anderthalb Stunden, bis die Tragflächen enteist waren. Auf Mallorca verpaßte ich meinen Anschlußflug.
Immerhin entschädigte mich Air Berlin mit einem Gutschein über 15 Euro. Dennoch: An einem grauen Novembertag im Terminal C des Flughafens von Palma festzuhängen ist trist, sehr trist. Ich kam dann doch noch nach Nerja, 15 Stunden später, immerhin zu erträglicher Zeit, sieben Uhr abends. In Málaga erwischte ich meinen Bus und um eine Zehntelsekunde meinen Anschlußbus am Terminal de Autobuses an der Plaza de la Solidaridad um 17.30 von der Plattform 38. Die Fahrt kostet nicht ganz vier Euro und dauert etwa eine Stunde auf der AP-7, der Autopista del Mediterraneo.


Mein Zimmer hatte ein bequemes hartes Bett und, wie die meisten Häuser dort, keine Heizung. Nachts schlief es sich gut in der Kälte, aber früh kostete es Überwindung, aus dem Bett zu springen. Man mußte sich zur Dusche hinüberretten, aus der dann zum Glück jede Menge heißes Wasser kam.


Die Sprachschule »Quorum« ist nur ein paar hundert Meter entfernt, klein, hübsch, professionell, sehr sympathische Lehrer, intelligente, gebildete und kultivierte Menschen mit bescheidenen Einkommen, wie überhaupt die meisten Spanier mit viel bescheideneren Einkommen auskommen müssen als man angesichts der Preise für alltägliche Güter denken könnte, die nicht sehr viel niedriger sind als in Deutschland.

Diese Kargheit verstehen sie aber mit einer gewissen Noblesse auszukosten. Die Schule bot abends immer noch zusätzliche actividades an, Filmvorführungen, Kneipentouren usw. Mein Grammatiklehrer Francisco veranstaltete einmal ein Weinseminar. Es nahmen so sechs, sieben Leute teil und soviel Euro kostete es auch pro Nase. Fran, der ein sehr witziger Typ ist, besorgte drei Flaschen, blanco, rosado, tinto, alle sehr gut ausgesucht. Er erzählte eine Menge über Anbau, Herstellungsmethoden, Eigenschaften usw., aber das Bemerkenswerteste war sein Fazit : Wenn Du Dich ein bißchen auskennst, kannst Du für, sagen wir, 15 Euro einen wirklich exzellenten Wein kaufen. Wenn Ihr vier Leute seid und zusammenlegt, könnt Ihr euch einen vergnüglichen Abend machen, und das ist billiger, als wenn Ihr ins Kino geht. Vier Leute und eine Flasche Wein. Das hat mir doch sehr imponiert.


 Zum ersten Mal ging ich eine Schule, in der die Lehrer jünger waren als ich – die anderen Kursteilnehmer in meinem Alter oder eher etwas älter, ebenfalls sehr nett. Eine belgische Pensionärin, die demnächst ihren Lebensabend in einer urbanización an der Costa del Sol verbringen wollte, ein finnischer Chemieingenieur, eine kaufmännische Angestellte von VW Wolfsburg, ein Rundfunkjournalist aus Berlin. Unterricht von 9.30 bis 15.30 (gramática, conversación, redacción, pronunciación y dudas(sic!)) Danach hast Du um diese Jahreszeit noch zwei, drei Stunden, bis es dunkel wird.


Dann zog ich entweder alleine los oder mit meinem Mitschüler und ortskundigen guía Stephan Buchheim, der im Hauptberuf Moderator beim rbb-»Radio Berlin« ist und seit August in Nerja eine Art Sabbat-Halbjahr verbrachte.


 Ansonsten verkroch ich mich abends, wenn es auf dem Dach zu frisch wurde, unter meiner Bettdecke und las "Die Erfahrung der Welt" von Nicolas Bouvier, einen unprätentiösen Reisebericht über eine Fahrt mit einem Fiat Topolino von Genf über Jugoslawien, die Türkei, den Iran und Pakistan nach Afghanistan, unternommen 1953/54.

 Dieser irre Schweizer schrieb tolle Sachen, z. B. (in Jugoslawien) "Tatsache ist, dass der Ernst die Lieblingsware der Volksdemokratien darstellt" und: "Es ist wirklich sonderbar, dass die Revolutionen, die doch das Volk zu kennen behaupten, so wenig von seiner Klugheit halten und bei ihrer Propaganda zu Schlagworten und Symbolen greifen, deren Konformismus noch einfältiger ist, als jener, den zu bekämpfen sie vorgeben" aber auch (als er und sein Gefährte die Rückreise antreten) "Ich habe meinen gestempelten Pass abgeholt und Afghanistan verlassen. Es fiel mir nicht leicht. Die Strasse ist auf beiden Seiten des Passes gut. Wenn der Wind aus dem Osten kommt, weht dem Reisenden noch lange vor der Höhe stossweise der reife, verbrannte Geruch des indischen Kontinents entgegen." Oder er zitiert den US-Amerikaner Ralph Waldo Emerson: "Das ist ein wirklicher Gewinn, denn wir haben Anrecht auf diese befreienden Erfahrungen, und wenn wir die Grenzen einmal überschritten haben, werden wir nie mehr ganz die gleichen kläglichen Pedanten sein, die wir waren."

In einer kleinen Bar um die Ecke konnte man für ein, zwei Euro phantastische bocadillos mit Queso de Manchego oder Serrano-Schinken frühstücken – sie tun dort keine Butter aufs Brot, sondern rösten es mit Olivenöl auf der Herdplatte an - dazu einen café cortado, und dann ab zum Unterricht.

Die Woche ging schnell rum, die Beschäftigung mit der Sprache war höchst intensiv, »superintensiv«, wie sie diesen Kurs ja auch nennen. Es war in vielerlei Hinsicht geistig anregend, aber erholsam, wie ich mir das erhofft, und wie ich es nötig gehabt hätte, war es nicht. Dennoch faszinierend, wie ein kurzer, intensiver Traum, über den man noch lange nachdenkt. Außerdem wurde mir in Nerja klar, daß ich in den letzten zwei Jahrzehnten - wie flüchtig auch immer - ziemlich viele Facetten dieses eigenartigen Halbinselstaates hinter den Pyrenäen kennengelernt oder wenigstens gesehen habe.

Einmal, kurz nach dem Mauerfall hätte mich die Guardia fast erwischt, wie ich mit Genossen der trotzkistischen Liga Comunista Revolucionaria (LCR) in Sanlúcar de Barrameda ein gigantisches Hammer-und-Sichel-Mural an eine Wand pinselte. Eine der Beteiligten, die später nach Berlin emigrierte, berichtete, daß es noch Jahre dauerte, bis es entfernt wurde. Sanlúcar wurde damals von einer Koalition sozialistischer und kommunistischer Winzer beherrscht, und die anarchistische Gewerkschaft der Landarbeiter, das Sindicato de los Obreros del Campo (SOC), war ein Machtfaktor, gegen den sie nicht anregieren konnten. Die Trotzkisten hatten in dieser Konstellation so eine Art Mittlerfunktion.

In Granada, wo es mich damals auch hinverschlug, hatte die konservative Stadtverwaltung allerorten »Carteles no« (Keine Plakate) an die Wände sprühen lassen. Ich schlug vor, »Otan tampoco« (Nato auch nicht) darunter zu schreiben, was von der örtlichen Parteigruppe mit Begeisterung aufgegriffen wurde. Ich hatte Glück, daß ich damals nicht im Knast landete. Zehn Jahre später hätte uns die ETA in Santa Pola beinahe in die Luft gesprengt, aber wieder hatte ich Glück.

Die Bilder, Gerüche und Geräusche sind irgendwo abgespeichert, und wann immer ich meinen Fuß auf spanischen Boden setze, werden sie lebendig, wie eine Saite, die durch Resonanz zu schwingen anfängt, und ich weiß bis heute nicht, ob das am Land oder an mir oder vielleicht am Reisen schlechthin liegt, oder einfach daran, daß es mich an soviel erinnert. Vielleicht könnte es ja auch Italien oder Polen sein, aber Spanien ist, für mich jedenfalls, ein ganz besonderer Ort.

Es kommt noch etwas hinzu, und das ist das Alter. Nicht gerade in dem Sinne, daß man jenseits der Vierzig keine neuen Erfahrungen mehr machen könnte, aber Du hast natürlich viel mehr Erinnerungen als mit Anfang zwanzig. Und jeden neuen Eindruck wirst Du mit ihnen vergleichen, einordnen, ob Du willst oder nicht. Übrig bleiben nur Splitter, die Du zu einem Mosaik sortieren oder Schnipsel, die Du zu einem Film zusammenmontieren kannst oder auch nicht.

 Den Rest kannst Du vergessen.


El olvido es el campo de la memoria, cual que la conciencia ya no puede lograr.

(Das Vergessen ist der Ort der Erinnerung, den das Bewußtsein nicht mehr erreichen kann.)