Heute lag das Berliner Abendblatt im Briefkasten (eins der beiden großen Gratis-Anzeigenblätter, das andere heißt Wochenblatt).
Ehrlich gesagt, wenn ich Zeit hab, schau ich da gern rein. Heute machen
sie auf mit: "Momper mustert Müllverwertung". Die Redakteurin war
sicher stolz auf die Alliteration.
Die Geschichte ist
folgende: Walter Momper, der bei den letzten Wahlen zum Berliner
Abgeordnetenhaus das einzige SPD-Direktmandat in Reinickendorf geholt
hat (alle anderen gingen an die CDU) besucht einen Müllsortierbetrieb
der Firma Alba in der Markscheiderstraße 38. Wie er so in der Werkhalle
herumläuft, erinnert er sich "beim Anblick der vollautomatisierten
Anlage (...) an frühere Betriebsbesichtigungen: Damals trennten Arbeiter
an den Bändern den Müll noch per Hand."
Naja,
das war's eigentlich schon. Der Präsident des Berliner
Abgeordnetenhauses läuft mit seinem roten Schal durch eine menschenleere
Werkhalle und sucht seine Wähler, und vielleicht ist ihm in diesem
Moment klar geworden, warum die SPD auch in Reinickendorf ihre besten
Zeiten hinter sich hat.
Müll sortieren ist keine
schöne Arbeit, und man kann es nur begrüßen, wenn sie den Menschen von
Maschinen abgenommen wird. Mir tut auch die SPD nicht leid. Aber mir
gefällt die Geschichte, und es ist genau dieses Aufblitzen der
historischen Niederlage, was mir daran gefällt.
Die
SPD ist gut für solche Geschichten, selbst die Kommunisten können da nur
schwer mithalten, und die Linkspartei wird es nicht mehr schaffen,
einen annähernd vergleichbaren Mythos aufzubauen. Sie hat keine
Geschichte und wird wohl auch keine mehr machen, nicht mal eigene Ideen
gibt's, alles second hand: Entweder schon abgelegt oder geborgt, oder es
wird aufgetragen, was die SPD abgelegt hat.
Als ich
Anfang '95 aus Mexiko zurückkam, brauchte ich neben meinem Studium
dringend einen Job und fing als Lokalreporter bei der Weddinger
Wochenzeitung Der Nordberliner an. Im Gegensatz zu Abend- und Wochenblatt kostete Der Nordberliner
50 Pfennig (heute 50 Cent) und hat insgesamt mehr Text als Reklame. Ich
hab das damals zunächst als Degradierung empfunden: Aus Mexiko hatte
ich für die Berliner Zeitung über Präsidentschaftswahlen,
Guerrilla und Aufstand der Zapatistas geschrieben. Jetzt mußte ich mit
Wolfgang Thierse ins "Sport-Eck" in der Lüderitzstraße zum
SPD-Ortsverein.
Es hat ein bißchen gedauert, aber dann
hab ich gemerkt, daß man sich mit dieser Art von Arbeit als Journalist
zwar nicht wichtigmachen kann, aber daß es in Wirklichkeit mindestens
ebenso interessant war, wie über irgendwelche großen Ereignisse in
Übersee zu berichten. Tatsächlich war es auch schwieriger, jedenfalls,
wenn man es anständig machen wollte. Über Präsidentschaftswahlen in
irgendeinem x-beliebigen Land zu schreiben, ist viel leichter, als es
auf den ersten Blick scheint. Natürlich kann man es gut oder schlecht
machen, aber wer die Landessprache so beherrscht, daß er die wichtigsten
Tageszeitungen halbwegs lesen kann und dann vielleicht noch den einen
oder anderen "politischen Beobachter" zitiert, der wird das immer
passabel hinkriegen. Aber gehen Sie mal mit Thierse in eine Weddinger
Arbeiterkneipe, eine Woche vor Weihnachten 1997.
Die
Kohl-Regierung war ziemlich am Ende, Thierse sollte die Parteibasis hier
im Arbeiterbezirk Wedding ein bißchen in Schwung bringen für den
beginnenden Bundestagswahlkampf. Ausgerechnet Thierse, der katholische
Ostintellektuelle! Allein der Clash der Kulturen war schon faszinierend.
Aber wenn ich mir diesen 13 Jahre alten Artikel heute noch einmal
durchlese, muß ich sagen, da war noch viel mehr Musike drin.
"Das
Land braucht nicht nur eine andere Regierung", deklamierte Thierse, der
damals stellvertretender SPD-Chef war, "sondern vor allem einen
Politikwechsel." Ich bin sicher, wir werden exakt diesen Satz in den
nächsten zwei, drei Jahren wieder öfter hören, und nicht nur von
Thierse. Und weiter im Originaltext:
"'Genossinnen und
Genossen', sagt Thierse, 'es muß Schluß gemacht werden mit der
schamlosen Umverteilung von unten nach oben.' Steuerschlupflöcher für
Spitzenverdiener will die SPD dichtmachen, Firmen, die keine Lehrlinge
ausbilden, sollen eine Ausbildungsabgabe leisten. Aber jeder dieser
Punkte ist bei den Sozialdemokraten selbst umstritten. Gegen die
Arbeitslosigkeit will man kämpfen, aber wie? Mit staatlicher
Arbeitsförderung? Mit mehr Billiglohn-Jobs? Für fast jedes Problem hat
die SPD zwei Lösungsvorschläge, genau wie sie zwei Kanzlerkandidaten
(...) hat.
'Wir müssen die Millionen Menschen in diesem
Land vertreten, denen es wirklich dreckig geht und auch für die
Wirtschaft und den Fortschritt sorgen', sagt Thierse mit Mahnerstimme.
Öfter als: 'Ich seh das soundso', sagt er: 'Das hat der Oskar neulich
gesagt, und ich find' das auch gut.'
Weil er dafür
manchmal ziemlich lange braucht, beschwert sich ein Genosse: 'Der hört
ja janich wieda uff zu quatschen.' Ein anderer will noch was zur
Strategie sagen: 'Unser Kanzlerkandidat muß ja keen sozialdemokratischet
Programm vertreten, der muß so sein, daß er vonne Leute jewählt wird.'
Ja, sagt Thierse, Gerhard Schröder, den findet er auch gut."
Also, ich will mich hier nicht selber loben, aber ist das nicht 'ne wahre Perle? Das gab's nur im Nordberliner, am 18. Dezember 1997.