29. November 2010

Mit Thierse 1997 im Sport-Eck, Lüderitzstraße: "Der hört ja janich wieda uff zu quatschen"

Heute lag das Berliner Abendblatt im Briefkasten (eins der beiden großen Gratis-Anzeigenblätter, das andere heißt Wochenblatt). Ehrlich gesagt, wenn ich Zeit hab, schau ich da gern rein. Heute machen sie auf mit: "Momper mustert Müllverwertung". Die Redakteurin war sicher stolz auf die Alliteration.

Die Geschichte ist folgende: Walter Momper, der bei den letzten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus das einzige SPD-Direktmandat in Reinickendorf geholt hat (alle anderen gingen an die CDU) besucht einen Müllsortierbetrieb der Firma Alba in der Markscheiderstraße 38. Wie er so in der Werkhalle herumläuft, erinnert er sich "beim Anblick der vollautomatisierten Anlage (...) an frühere Betriebsbesichtigungen: Damals trennten Arbeiter an den Bändern den Müll noch per Hand."

Naja, das war's eigentlich schon. Der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses läuft mit seinem roten Schal durch eine menschenleere Werkhalle und sucht seine Wähler, und vielleicht ist ihm in diesem Moment klar geworden, warum die SPD auch in Reinickendorf ihre besten Zeiten hinter sich hat.

Müll sortieren ist keine schöne Arbeit, und man kann es nur begrüßen, wenn sie den Menschen von Maschinen abgenommen wird. Mir tut auch die SPD nicht leid. Aber mir gefällt die Geschichte, und es ist genau dieses Aufblitzen der historischen Niederlage, was mir daran gefällt.

Die SPD ist gut für solche Geschichten, selbst die Kommunisten können da nur schwer mithalten, und die Linkspartei wird es nicht mehr schaffen, einen annähernd vergleichbaren Mythos aufzubauen. Sie hat keine Geschichte und wird wohl auch keine mehr machen, nicht mal eigene Ideen gibt's, alles second hand: Entweder schon abgelegt oder geborgt, oder es wird aufgetragen, was die SPD abgelegt hat.

Als ich Anfang '95 aus Mexiko zurückkam, brauchte ich neben meinem Studium dringend einen Job und fing als Lokalreporter bei der Weddinger Wochenzeitung Der Nordberliner an. Im Gegensatz zu Abend- und Wochenblatt kostete Der Nordberliner 50 Pfennig (heute 50 Cent) und hat insgesamt mehr Text als Reklame. Ich hab das damals zunächst als Degradierung empfunden: Aus Mexiko hatte ich für die Berliner Zeitung über Präsidentschaftswahlen, Guerrilla und Aufstand der Zapatistas geschrieben. Jetzt mußte ich mit Wolfgang Thierse ins "Sport-Eck" in der Lüderitzstraße zum SPD-Ortsverein.

Es hat ein bißchen gedauert, aber dann hab ich gemerkt, daß man sich mit dieser Art von Arbeit als Journalist zwar nicht wichtigmachen kann, aber daß es in Wirklichkeit mindestens ebenso interessant war, wie über irgendwelche großen Ereignisse in Übersee zu berichten. Tatsächlich war es auch schwieriger, jedenfalls, wenn man es anständig machen wollte. Über Präsidentschaftswahlen in irgendeinem x-beliebigen Land zu schreiben, ist viel leichter, als es auf den ersten Blick scheint. Natürlich kann man es gut oder schlecht machen, aber wer die Landessprache so beherrscht, daß er die wichtigsten Tageszeitungen halbwegs lesen kann und dann vielleicht noch den einen oder anderen "politischen Beobachter" zitiert, der wird das immer passabel hinkriegen. Aber gehen Sie mal mit Thierse in eine Weddinger Arbeiterkneipe, eine Woche vor Weihnachten 1997.

Die Kohl-Regierung war ziemlich am Ende, Thierse sollte die Parteibasis hier im Arbeiterbezirk Wedding ein bißchen in Schwung bringen für den beginnenden Bundestagswahlkampf. Ausgerechnet Thierse, der katholische Ostintellektuelle! Allein der Clash der Kulturen war schon faszinierend. Aber wenn ich mir diesen 13 Jahre alten Artikel heute noch einmal durchlese, muß ich sagen, da war noch viel mehr Musike drin.

"Das Land braucht nicht nur eine andere Regierung", deklamierte Thierse, der damals stellvertretender SPD-Chef war, "sondern vor allem einen Politikwechsel." Ich bin sicher, wir werden exakt diesen Satz in den nächsten zwei, drei Jahren wieder öfter hören, und nicht nur von Thierse. Und weiter im Originaltext:

"'Genossinnen und Genossen', sagt Thierse, 'es muß Schluß gemacht werden mit der schamlosen Umverteilung von unten nach oben.' Steuerschlupflöcher für Spitzenverdiener will die SPD dichtmachen, Firmen, die keine Lehrlinge ausbilden, sollen eine Ausbildungsabgabe leisten. Aber jeder dieser Punkte ist bei den Sozialdemokraten selbst umstritten. Gegen die Arbeitslosigkeit will man kämpfen, aber wie? Mit staatlicher Arbeitsförderung? Mit mehr Billiglohn-Jobs? Für fast jedes Problem hat die SPD zwei Lösungsvorschläge, genau wie sie zwei Kanzlerkandidaten (...) hat.

'Wir müssen die Millionen Menschen in diesem Land vertreten, denen es wirklich dreckig geht und auch für die Wirtschaft und den Fortschritt sorgen', sagt Thierse mit Mahnerstimme. Öfter als: 'Ich seh das soundso', sagt er: 'Das hat der Oskar neulich gesagt, und ich find' das auch gut.'

Weil er dafür manchmal ziemlich lange braucht, beschwert sich ein Genosse: 'Der hört ja janich wieda uff zu quatschen.' Ein anderer will noch was zur Strategie sagen: 'Unser Kanzlerkandidat muß ja keen sozialdemokratischet Programm vertreten, der muß so sein, daß er vonne Leute jewählt wird.'

Ja, sagt Thierse, Gerhard Schröder, den findet er auch gut."


Also, ich will mich hier nicht selber loben, aber ist das nicht 'ne wahre Perle? Das gab's nur im Nordberliner, am 18. Dezember 1997.