9. November 2010

Die neue deutsche "Erinnerungskultur" will nicht, dass wir uns an etwas Konkretes erinnern

Ein Experiment: Die Google-News-Suche ergibt zum Schlagwort "Reichspogromnacht" 370 Treffer aus Deutschland, 92 Ergebnisse zu "Erinnerungskultur", aber nur sieben zu "Herschel Grynszpan". Darunter vier Tageszeitungen (nur eine überregionale), den Bayrischen Rundfunk, ein "Online-Presseportal" und das jüdische Onlinemagazin haGalil.
Das Ganze zeigt, wie ritualisiert die "Erinnerungskultur" ist, die an Tagen wie diesem in Deutschland beschworen wird.
Der 17jährige Grynszpan hatte am 7. November 1938 in Paris mit einem Revolver auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath geschossen, wie er später gegenüber der französischen Polizei aussagte, um seine von der Gestapo misshandelten Eltern zu rächen. Am 8. war die Geschichte auf den Titelseiten aller deutschen Zeitungen, am 9. starb Rath an seinen Schussverletzungen. Das Attentat wurde vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels benutzt, um die Welle die "Volkszorns" zu inszenieren, die Historiker später die Novemberpogrome nannten.
Eine sehr lehrreiche Geschichte über das Zusammenspiel von Massenmedien, einem sadistischen Mob und der geschickten Instrumentalisierung emotionalisierender Ereignisse durch eine skrupellose politische Führung.
Aber die neue deutsche "Erinnerungskultur" will nicht, dass wir uns an so etwas Konkretes erinnern. Wir sollen nur eines Jahrestages gedenken, bestimmte einstudierte Gesten ausführen, ein betroffenes Gesicht machen, die Stimme senken usw. Die "Reichspogromnacht" wird zu einer singulären bösen Tat "der Nationalsozialisten", unerklärlich, ohne historischen Kontext und also auch ohne Bezug zu der Gegenwart, in der wir leben.

http://www.hagalil.com/archiv/2010/11/09/9-november-2/