6. März 2013

Der Luxus der Demotorisierung

Von Kratzeburg nach Fürstenberg. Mit dem Kajak durch die Havelquellseen. Der beste Kanutrail im wilden Osten

Von Jörn Boewe, junge Welt, Reisebeilage 6. März 2013

Ich habe ein Boot, das in einen Rucksack paßt. Kein Witz. Der Semperit-Zander ist ein Schlauchkajak aus Hypalon, dem Material, aus dem Rettungsinseln für den Hochseeeinsatz gefertigt werden. Seine drei Luftkammern machen es praktisch unsinkbar. Es wurde bis Mitte der 80er Jahre in Österreich produziert. Mit seinen zwölf Kilogramm kann man das Boot zwar nicht auf längeren Fußmärschen, problemlos aber in öffentlichen Verkehrsmitteln mitführen.

Ich fuhr mit der Regionalbahn über Neustrelitz nach Kratzeburg, der nördlichsten Einsetzstelle am Oberlauf der Havel. Keine Menschenseele außer mir stieg an diesem von Gott und DB Station&Service verlassenen Haltepunkt aus. Ich hatte das Nordufer des Käbelicksees ganz für mich allein. Es war gegen zehn Uhr vormittags, als ich startklar war. Der Wind blies mit Stärke vier bis fünf aus Nordwest, und auf meiner Pharus-Gewässerkarte hieß es an dieser Stelle: »Vorsicht vor Westwinden!«

Im Kabbelwasser

Ich hielt Richtung Südwest, so daß ich die Wellen schräg von steuerbord nahm. Ich kam gut voran. Das beladene Boot lief besser, als ich erwartet hatte, aber es kippelte und schaukelte nicht schlecht, und ich nahm eine Menge Spritzwasser auf. Warum der Käbelicksee Käbelicksee hieß, wurde mir jetzt klar: käbbelig, kabbelig, kippelig. Fast eine Stunde kämpfte ich mit Wind und Wellen, dann erreichte ich glücklich die Landzunge am Südende des Sees. Dahinter wurde es ruhiger. Fische sprangen, Wildgänse zogen, Rehe grasten am Ufer. Dann hatte ich die Einfahrt ins Havelfließ erreicht.

Am Jamelsee zog ich mein Boot auf den Strand. In einem kleinen Krimskramladen checkte ich ein. »Wollen Sie Brötchen für morgen früh bestellen?« fragte die junge Frau hinterm Tresen. »Gut«, sagte ich und füllte mein Meldeformular aus. »Wie ist das, wenn ich mal spät komme, und Sie sind überfüllt – schicken Sie mich dann wieder weg?« »Alleinwanderer und Familien nehmen wir immer auf«, sagte sie. »Aber es gibt Gruppen, die passen einfach nicht hierher. Die kommen hier besoffen an. Die hören Sie schon kilometerweit. Die Sorte schicken wir stets weiter.«

Camping-Multi

Die Tourismushölle liegt an der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste, schreibt Wiglaf Droste, doch in Wahrheit ist die Tourismushölle wie alle Höllen leider dezentral. Der Campingplatz Woblitzsee, oder korrekt, der »Camping- und Ferienpark Havelberge« wird von einem Investor mit dem Tarnnamen »Haveltourist GmbH & Co. KG« betrieben. Der seinerseits gehört zur Leading Campings Group, der »most powerful group des europäischen Spitzencamping«, einem Multi mit acht Millionen Übernachtungen und 150 Millionen Euro Jahresumsatz. »Europaweit rund 2300 freundliche, geschulte Mitarbeiter« müssen alberne Uniformen und ein angecoachtes Servicelächeln zur Schau tragen.

In dieser zweiten Nacht tat mir alles weh. Ich wußte kaum, wie ich liegen sollte, in meinem Ein-Mann-Kuppelzelt am Ufer der Campinghölle mit Megabiergarten und Diskobeschallung. Doch am Morgen schien wieder die Sonne, die Wellen glitzerten wie auf Coopers Glimmerglassee im Band eins der Lederstrumpferzählungen. Ich packte meine Sachen, sprang nochmal in den See und legte ab.

Es wurde eine lange Etappe, bis am Ende des langgestreckten Großen Priepertsees der schmale, abgewinkelte Ellbogensee auftauchte, von dessen Ufer mich ein kleiner Zeltplatz anlachte. Nicht so hübsch verträumt wie der am Hexenwäldchen mit der Kanustation Blankenförde, aber viel humaner als die Tourismusfabrik am Woblitzsee. Kaum hatte ich mein Zelt aufgebaut, fing es an zu regnen. Am nächsten Morgen stand ich um sieben auf, breitete meine Sachen auf einem sonnigen Fleck auf der Böschung aus. Ich schwamm eine Runde und frühstückte. Gegen halb neun legte ich ab.

Dunstschwaden lagen wie Spinnweb über der spiegelglatten Oberfläche. Lautlos glitt ich am Kahn eines Anglers vorbei, und gerade als ich ihn passierte, hatte er einen Biß. Ich ließ mein Kajak beidrehen und langsam abdriften. Bevor ich sehen konnte, wer gewonnen hatte, verschwand ich im Dunst.

Durchgeschleust

Auf der letzten Etappe kam ich gut voran. Gegen halb elf erreichte ich die Schleuse Steinhavelmühle. Eine Stunde später kam der Röblinsee bei Fürstenberg in Sicht, der größte der drei Seen, die die Stadt von Osten, Westen und Süden umschließen. Käbelicksee, Granziner See, Schulzensee, Pagelsee, Zotzensee, Jäthensee, Jamelsee, Görtowsee, Zierzsee, Useriner See, Großer Labussee, Woblitzsee, Drewensee, Finowsee, Wangnitzsee, Großer Priepertsee, Ellbogensee, Ziernsee, Menowsee, Röblinsee – zwanzig Seen in vier Tagen. Der Zivilisation zu entkommen, war mir nur für wenige Stunden gelungen, im nördlichen Teil und der Kernzone des Nationalparks und am Sonntag morgen zwischen Ellbogensee und Steinhavel, bevor die verkaterten Motorbootsführer ihre Maschinen anwarfen. Jetzt war ich kurz vorm Ziel.

Am Campingplatz am Nordufer ging ich an Land, ließ die Luft aus dem dreißig Jahre alten Kajak, das in vier Tagen kein bißchen davon verloren hatte, bezahlte fünfzig Cent Aussetzgebühr und trug mein Gepäck zur Station. Der vielgenutzte Bahnhof am Streckenkilometer 78,0 der Preußischen Nordbahn löst sich in seine Bestandteile auf. »Geschlossen wegen Vandalismusschäden«, hat die DB Station&Service AG an die Tür geschrieben. Ich ging also um die Bahnhofshalle herum, um auf den Bahnsteig zu gelangen, wo ein DB-Ingenieur am Fahrkartenautomaten herumschraubte. »Dit wird hier nischt mehr«, stellte er fachmännisch klar.

Der Regionalexpreß 5 aus Rostock fuhr ein. Der Zug war gut besetzt. Ich fand Platz auf einer Treppe. Im Zwischendeck reiste ein Dreivierteldutzend nordostdeutscher Supermarktverkäuferinnen, die sich mit warmem Wodka und »kleinem Feigling« bei Laune hielten. In Oranienburg sprang ich aus dem Zug. Ein Schaffner war nicht gekommen. Zehn Euro gespart. Falls das die neue Freundlichkeitsoffensive der Deutschen Bahn AG ist, nehme ich alles zurück, was ich je über die Großtuerei dieses Ladens geschrieben habe.

www.hexenwaeldchen.de
www.kanubasis-blankenfoerde.de