26. Oktober 2012

»Dann kriegen wir ihn in Veracruz«

Mit »Billigflaggen« unterlaufen Reeder Tarifverträge der Handelsschiffahrt. Dagegen setzt die Internationale Transportarbeiterföderation auf die Solidarität von Seeleuten und Hafenarbeitern

Von Jörn Boewe, junge Welt, 27./28. Okt. 2012

»Weg, ausgelaufen«, sagt Hamani. »Gerade kommt die Meldung, daß er heute früh ausgelaufen ist.« Die Volunteers hören auf zu kauen und schauen den Inspektor an. Gestern wollten sie diesen Frachter kontrollieren. Schon standen sie auf der Gangway, da ging – beim Löschen der Ladung – ein Schwerlastgang am Schiffskran kaputt. Sie hätten darauf bestehen können, an Bord zu gehen. Aber sie wissen, wie heikel es ist, wenn drei Tonnen Last außenbords am Haken hängen. Die Volunteers sind Hafenarbeiter. Wir kommen wieder, wenn der Kran repariert ist, sagten sie.


Wismar, die Nummer fünf unter den deutschen Osteehäfen. Dreieinhalb Millionen Tonnen gehen hier jährlich über die Kaikante

Die Volunteers sind Typen, die eher in die Breite gehen, aber jetzt machen sie lange Gesichter. Sie sitzen um den Tisch, Brötchen auf dem Teller, im Gewerkschaftshaus in der August-Bebel-Straße in Rostock. ITF-Inspektor Hamani Amadou sitzt an seinem Computer und schaut ins Internet. »Das macht nichts«, sagt er. »Dann kriegen wir ihn in Veracruz.«

5. September 2012

Warten am Strelasund

Beschäftigte der Volkswerft Stralsund hoffen auf Insolvenz in Eigenverwaltung. Heute tagt der Gläubigerausschuß

Von Jörn Boewe, Stralsund, junge Welt, 6. Sept. 2012

Die Stimmung ist gedrückt auf der Volkswerft Stralsund. Der Schiffbaubetrieb gehört zur »P+S«-Gruppe, die in der vergangenen Woche Insolvenz angemeldet hat. Im Konferenzraum des Betriebsrates hängt ein zehn Jahre altes IG-Metall-Plakat. »Kein Aus für Flender« steht darauf. 2002 wurde die Lübecker Flender-Werft geschlossen. »Da sind wir damals hin und haben mitgeheult«, sagt Betriebsrat Hans-Jürgen Fischer. »Und jetzt sind wir selber kurz davor.«



4. September 2012

ITF überprüft Ostseehäfen

Internationale Transportarbeiterföderation kontrolliert Einhaltung von Tarifverträgen auf Schiffen an der deutschen Küste

Von Jörn Boewe, Wismar, junge Welt, 5. Sept. 2012

Früh um neun im Gewerkschaftshaus in der Rostocker August-Bebel-Straße. Die dritte Etage gehört ver.di, sagt ein freundlicher, älterer Besucher, aber in Rostock sind alle Gewerkschaften klamm, deshalb hätten sie einen Teil vermietet, »an diese Seefahrergewerkschaft, glaube ich«. »Diese Seefahrergewerkschaft« besteht am Dienstag morgen aus dem Nigrer Hamani Amadou und sechs Hafenarbeitern, zweien aus Rostock, vieren aus Lübeck.


Amadou recherchiert im Internet, welche Schiffe heute in die Ostseehäfen der Region einlaufen: Rostock, Wismar, Lübeck, Kiel. Kein Schiff fährt heute mehr unentdeckt ohne Tarifvertrag über die Weltmeere. Dank GPS und Internet kann seine Position genau bestimmt werden. Amadou kann auf verschiedene Datanbanken zugreifen – die der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) in London wie auch das ebenfalls an der Themse ansässige Internationale Schiffsregister von Lloyd. Eigentümer, tariflicher Status und weitere Einzelheiten können heute schneller zusammengestellt werden, als eine Möwe auf Deck scheißt.

16. Mai 2012

Outgesourcte wehren sich

Piepenbrock-Arbeiter im Erzwingungsstreik. Beschäftigte von Wartungsfirma am Stahlwerk Arcelor kämpfen gegen Abkoppelung von Tarifentwicklung

Von Jörn Boewe, Eisenhüttenstadt / junge Welt, 16. Mai 2012


»Jetzt geht’s darum, wer am stursten ist«, sagt einer. Es ist der vierte Streiktag bei Piepenbrock Instandhaltung in Eisenhüttenstadt. In »Hütte«, sagen die Einheimischen. Zwei Dutzend Männer und eine Frau drängen sich im Sportlerheim, unweit des Stahlwerks von Arcelor-Mittal, vormals Eisenhüttenkombinat Ost, später EKO Stahl. Hier hat die IG BAU ihr Streiklokal eingerichtet. Gewerkschaftssekretär Hivzi Kalayci steht am Grill und dreht Bratwürste. Die Piepenbrock GmbH & Co. KG unterhält hier eine Niederlassung mit 62 Beschäftigten, die für die Wartung von Krananlagen, Inudstriebahn, Hebebühnen, Aufzügen usw. bei Arcelor zuständig sind
 

Vor zwanzig Jahren waren sie noch Teil des Stahlwerks. Sie fielen auch unter den Stahltarifvertrag. Um Geld zu sparen, wurde der Instandhaltungsbereich damals ausgegliedert – und von der Tarifentwicklung der Stahlindustrie abgekoppelt. »Wir haben in den zwanzig Jahren gegenüber unseren Kollegen bei EKO fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Euro Minus gemacht.« Ein Facharbeiter bekommt bei Piepenbrock in Eisenhüttenstadt 9,91 Euro die Stunde.

21. April 2012

Hoy no circula

Zehn vor fünf mußte ich aus dem Haus, damit ich um sieben bei General Motors war. Einmal von Süd nach Nord durch die ganze Stadt. Lucas, der wahnsinnige Taxifahrer, mit dem ich die Wohnung teilte, surfte mit seinem grünen VW-Käfer irgendwo durch die unendlichen Weiten Mexico Citys. Wenn jemand für Lucas anrief, wußte ich nie, ob er gerade »immer noch« oder »schon wieder« arbeitete. Es war sowieso dasselbe. Luke Skywalker flog durch den Hyperraum, wo die Begriffe der Newtonschen Physik keine Anwendung mehr fanden.


Ich sprang aus der Dusche, die mich um diese Uhrzeit nie enttäuschte, das heißt, es kam Wasser heraus (kaltes), trocknete mich in der kleinen Küche ab, wärmte meine Hände an der Kaffeetasse und überlegte, ob ich mir ein paar Maistortillas auf der Herdplatte ankokeln sollte, da klingelte das Telefon.

11. April 2012

México on Kodachrome (1994)







Photos mainly taken in Chiapas, México, 1994, at the 1st meeting of the "Convención Nacional Democrática" in the territories controlled by the zapatista liberation army EZLN. Praktica BMS on Kodachrome. Geographical position only approximately. > more ...

29. Februar 2012

Im Elbsandstein wandern

Der Wechsel vom Winter zum Frühjahr ist die richtige Zeit für eine Tour durch die Sächsische Schweiz

Von Jörn Boewe, junge Welt, Reisebeilage, 29. Feb. 2012

Es ist keine schlechte Idee, über Ostern ans Mittelmeer zu flüchten, wo die Luft noch kalt, aber die Sonne schon warm ist. Doch in diesem Jahr hatte ich etwas besseres vor. Ich zog die Wanderstiefel an und stieg in den Eurocity Richtung Budapest. Man reist angenehm mit diesem Zug, er ist bequem wie ein alter Interregio, aber nicht overdesigned wie ein ICE. Nach knapp drei Stunden stieg ich in Bad Schandau aus.



23. Februar 2012

Von wegen Bürgerrechtler: Gaucks Freiheit

»Seit Anfang 1990 waren wir in ziemlich unerfreuliche Entwicklungen hineingerutscht. Sämtliche `89er Hoffnungen auf eine freiheitlich-sozialistische Entwicklung hatten sich erledigt. Ich erinnere mich, wie wir um den Jahreswechsel 1989/90 die Rostocker Lange Straße entlangliefen – ein paar hundert Leute mit einer schwarzen VL-Fahne mit rotem Stern. Die Hafenarbeiter waren an uns – die »Initiative Vereinigte Linke« - mit der Bitte herangetreten, sie bei der Bildung eines Hafenrates zu unterstützen. Das war ein Hoffnungsschimmer: Die Revolution war noch lebendig. Das Management wollte nur einen »Beirat« ohne Entscheidungskompetenz akzeptieren. Die Belegschaft fühlte sich zu recht verarscht. Wir rieten ihr, nichts zu unterschreiben. Wir waren alle ein bißchen skeptisch. Aber wir würden tun, was in unserer Macht lag, die Öffentlichkeit mobilisieren, die Manöver der Funktionäre aufdecken, die Universität revolutionieren. Die Stasi aushebeln. Das Steuer herumreißen. Studenten und Arbeiter gemeinsam. Die freie Kommune Rostock. Mit den Packern vom Überseehafen. Das Tor zur Welt.

"Sie wissen, wie es gemacht wird. Aber was für Arschlöcher sind manche" (Mexico City 1994)

Unsere Schwierigkeiten, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, wurden von Tag zu Tag größer. Rostocks Pastor Joachim »Jochen« Gauck hatte mehr Erfolg als wir. Eine der ersten politischen Aktionen des Mannes, der zunächst als Schirmherr der Rostocker »Donnerstagsdemos« bekannt wurde und später einer Bundesbehörde seinen Namen lieh, hatte im Herbst 1989 darin bestanden, die »Böhlener Plattform für eine vereinigte Linke« vom schwarzen Brett seiner Kirche abzureißen. Für solche wie uns hatten die gerade erkämpften demokratischen Freiheiten nicht zu gelten. Wir ließen uns das nicht bieten, aber von Woche zu Woche wurde klarer, daß wir immer mehr in die Defensive gerieten. Vielleicht hatte Jochen Gauck mehr Charisma als wir. Auf jeden Fall hatten seine Freunde mehr Westgeld.«

Jörn Boewe, in: ... das war doch nicht unsere Alternative: DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, hrsg. von Bernd Gehrke und Wolfgang Rüddenklau, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1999

18. Februar 2012

Hasta nuevo aviso

Ich stand kurz nach vier auf, nahm meinen gepackten Rucksack (Landkarte, Paß, Kameras, Notizbuch) und schlich mich aus dem Hotelzimmer. Ich ging am Revolutionsmuseum mit dem Granma-Memorial und der ewigen Flamme vorbei, marschierte die calle Aguacate nach rechts bis zur Obispo hinunter, dann nach links am Hotel Ambos Mundos vorbei bis zur Avenida del Puerto. Dann wieder nach rechts, vorbei am alten Zollgebäude und der Hafenmeisterei, weiter zum Fähranleger.

Fährstation La Habana Vieja

Wenn der öffentliche Nahverkehr in Havanna zum Erliegen kommt - die Fähren nach La Regla und Casa blanca am Ostufer der Bahía de la Habana fahren immer noch. Es gibt strenge Sicherheitskontrollen, aber zwischen fünf und halb sechs sind sie noch nicht übertrieben streng. Es gab in der Vergangenheit Versuche, eine Fähre nach Miami zu entführen, was, wenn es geklappt hätte, eine abenteuerliche und langwierige Reise geworden wäre. Seitdem darf man keine Handfeuer- und blanken Waffen, Glasflaschen und Laptops mitführen. Das mit den Laptops habe ich nicht verstanden, denn soweit ich erkennen konnte, haben die alten Dieselbarkassen keinen USB-Anschluß.

16. Februar 2012

Miquis, Repas, Guapos

Der Kampf um die Identität ist das große Thema von Kubas linken Intellektuellen

Von Jörn Boewe, Havanna, junge Welt, 16. Feb. 2012

An die hundert Leute haben sich am letzten Samstag abend in einen kleinen Saal in der früheren Kommandantur Che Guevaras in Havanna gequetscht. Enrique Ubieta Gómez, Herausgeber der populären Kulturzeitschrift La Calle del Medio und zweifellos einer der agilsten politischen Intellektuellen des Landes, stellt sein neues Buch vor.

Depósito de cerveza fría, La Habana Luyano


Der Titel irritiert zunächst: »Kuba: Revolution oder Reform?« Plan oder Markt, Staat oder Privat, Demokratie oder Diktatur – all das wäre auf den ersten Blick näherliegend. Aber Ubieta setzt Themen, und als mit allen Wassern des Postmodernismus gewaschener Kulturwissenschaftler kriegt er jedesmal die Kurve, egal, aus welcher Einflugschneise er zu seinen intellektuellen Loopings ansetzt.

Der freundliche Polizist

Ich ging die Landstraße von der Cabaña-Festung Richtung Casablanca. Es war abends, die Buchmesse schloß langsam ihre Tore. Ich wollte die Fähre über die Bucht von Havanna nehmen. Mir sind Boote lieber als Busse oder Taxis, und die Seeluft über der Lagune schmeckt bessert als die Abgase im Tunnel, der die Hafeneinfahrt unterquert.

La Bahía de la Habana, Blick vom Ostufer des Einfahrtskanals

 Ich kam an eine Kreuzung und war mir nicht ganz sicher, wo ich lang mußte. Aber weil gerade Buchmesse war, stand heute an dieser ruhigen Kreuzung ein Polizist neben seinem Motorrad.

13. Februar 2012

Harte Währung macht mich mürbe

Ich bin viel zu Fuß und mit dem Bus unterwegs in dieser pulsierenden karibischen Metropole. Obwohl mein Spanisch etwas eingerostet ist und die Kubaner kein Español, sondern Cubañol sprechen, komme ich schnell mit unterschiedlichsten Leuten ins Gespräch.

Allerdings ist es ausgesprochen frustrierend, daß praktisch jede persönliche Unterhaltung in Havanna über kurz oder lang auf eines hinausläuft. Nein, nicht erotische Dienstleistungen, obwohl das auch ein omnipräsentes Thema ist. Generell entwickelt sich nahezu jede Unterhaltung, die in einer alltäglichen Situation beginnt, auf einen Punkt hinzu, an dem dein kubanischer Gesprächspartner an ein paar konvertible Pesos herankommen will.

12. Februar 2012

Unmögliches versuchen

Kubas KP sieht Mentalitätswandel in den eigenen Reihen als notwendig für das Überleben der Revolution an. Ein Besuch im Zentralkomitee der PCC


Von Jörn Boewe, Havanna, junge Welt, 14. Feb. 2012


Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kubas hat seinen Sitz in einem militärischen Sperrgebiet am Rande der Plaza de la Revolución im Zentrum der Hauptstadt Havanna. Da wir eine Einladung des Sekretärs der Internationalen Abteilung, Noel Carrillo Alfonso, haben, ist es uns möglich, das Gebäude zu betreten, aber fotografieren dürfen wir nicht.

Dürften wir, würde man auf den Bildern eine Art Bunker der imposanteren Art sehen, der sehr realsozialistisch anmutet, obwohl er es gar nicht ist. Das Gebäude wurde bereits unter der Batista-Diktatur errichtet. Überhaupt scheinen hier viele Dinge auf den ersten Blick anders, als sie sind. Will man zu ihrem Grund durchdringen, kostet es ein bißchen Zeit, Empathie und Suerte, wie man hier sagt, was soviel wie Glück bedeutet, aber nicht jenes Glück, das einem zufällt (das heißt Fortuna), sondern jenes, für das man sich anstrengen muß und ein bißchen Geschicklichkeit braucht.

29. Januar 2012

Qué triste la corrida

El Negro kniete direkt vorm Ausgang des corrals. Der novillo-toro, ein wunderbares, urzeitliches Ungeheuer aus der tierra templada Michoacáns, schoss in die Arena, ein kleiner schwarzer Blitz aus Hörnern, Hufen und Nackenmuskeln. El Negro ließ ihn mit einem Herumwirbeln der capa haarscharf an sich vorbeifliegen. Es war die beste Eröffnung, die Tom je gesehen hatte. Sie dauerte nur eine halbe Sekunde. El Negro hatte sich während dieser halben Sekunde nicht von der Stelle gerührt. Der Stier stand verwirrt in der Arena.

Die Menge sprang von ihren Sitzen. Sie mochte El Negro nicht besonders, aber diese Eröffnung war zu offensichtlich gut gewesen. El Negro ignorierte den Applaus. Es schien ihm nichts zu bedeuten. Er arbeitete konzentriert. Seine capa-Manöver waren exakt. Er war darauf bedacht, den Stier ins Leere laufen zu lassen, ohne ihn jedoch zum Stolpern zu bringen oder durch zu scharfe Wendungen seine Wirbelsäule zu verletzen. Er war brilliant mit der capa.

Plaza Méxio, Sommer 1994
El Negro ging aus der Arena, und die zwei picadores ritten hinein. Die meisten matadores und novilleros erwarteten von ihren picadores, dass sie den Stier ruinierten. Sie stießen die pica drei-, viermal in den Nacken des Stieres, drehten sie in der Wunde herum, um den mächtigen und gefährlichen Nackenmuskel zu zerfetzen oder das Rückgrat des Stieres zu beschädigen. Die picadores waren beim Publikum die unbeliebtesten aller Stierkämpfer und wurden regelmäßig ausgepfiffen.