21. Dezember 2014

Die spanische Gitarre

Als ich acht Jahre alt war, schenkten mir meine Eltern eine Gitarre. Eine werkstattneue klassische Konzertgitarre aus dem VEB Musikinstrumentenbau Markneukirchen im Vogtland. Sie war damals, also 1975, nicht ganz so einfach zu bekommen, aber jedenfalls musste man nicht jahrelang darauf warten, wie auf einen Trabant.

Ich spielte ein gutes Vierteljahrhundert darauf. Irgendwann drängten sich andere Gitarren in den Vordergrund, eine wunderbare japanische Takamine-Westerngitarre, mit schmalem Korpus und gewölbter Decke wie eine Jazzgitarre, verschiedene seelenlose Stratocaster(-Nachbauten). Die klassische Gitarre aus dem Vogtland führte ein Schattendasein und Anfang des Jahrtausends behandelte sie ein Groundhandling-Arbeiter auf einem spanischen Flughafen so grob, dass sie  trotz ihres Koffers einen bleibenden Schaden erlitt. Ausgerechnet in Spanien, dem Mutterland der Gitarre.




6. Dezember 2014

Wo Willy Brandt recht hatte und wo er sich irrte

Es war ein unglaubliches Gedränge vor der Rostocker Marienkirche, heute vor 25 Jahren. Willy Brandt sollte eine Rede halten. Die Stimmung war fiebrig, die festgezurrten politischen Verhältnisse waren ins Wanken geraten, der Turm begann einzustürzen, aber es war noch nicht klar, in welche Richtung er kippen würde. Vor einem Monat hatte es eine Massendemonstration der Opposition auf dem Alexanderplatz gegeben, seit vier Wochen war die Mauer offen. Vor drei Tagen hatten Hunderttausende eine Menschenkette von Kap Arkona zum Fichtelberg gebildet - eine Aktion, die unter der Losung "Ein Licht für unser Land" stand, und nach 25 Jahren bundesdeutscher Geschichtsklitterung praktisch aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht ist, weil das Land, von dem da die Rede war, ausschließlich als "Unrechtsstaat" erinnert werden darf und sonst nichts.

21. November 2014

Die beste der Welten

Ich lebe nun schon mehr als die Hälfte meines Lebens im Westen, aber die Borniertheit dieser "besten der Welten" verblüfft mich immer noch und immer aufs Neue. Der Westen ist einfach unfähig, irgendetwas zu verstehen. Im aktuellen Spiegel eine - über weite Strecken gelungene - Titelgeschichte über junge Muslime aus Deutschland, die sich dem IS anschließen. Die Reporter versuchen, Antworten auf die Frage nach dem Warum aufzuspüren, und sie machen ihren Job vorbildlich, recherchieren, gehen in Gerichtssäle, sprechen mit Eltern, Freunden, Experten, besuchen Moscheen, Teestuben, Vereine - was man als Reporter so macht.

8. November 2014

In einem anderen Land

Die aktuelle Staats- und Parteiführung feiert die "friedliche Revolution, die ihren Höhepunkt am 9. November 1989 gefunden hat" (aus einer Programmankündigung der ARD). Nach einem Vierteljahrhundert ist vom subversiven Geist der 89er DDR-Bürgerbewegung nichts mehr übriggeblieben.

Rostock, Oktober 1989. Ein späterer Präsident war damals Pfarrer in Rostock. Dass er auch Bürgerrechtler war, erfuhren wir erst viel später, in einem anderen Land

27. Oktober 2014

Kein goldener Herbst

Eines der schönsten Naturphänomene des Herbstes - die Rotfärbung vieler Blätter - fiel in diesem Jahr praktisch aus. Es soll Leute geben, die so etwas gar nicht bemerken. Aber selbst denen ist vermutlich aufgefallen, dass der Oktober außergewöhnlich warm war. Das ist auch der Grund für den abgesagten "goldenen Herbst": Blätter färben sich nur rot, wenn es tagsüber sonnig, nachts aber kalt ist. Die roten Farbstoffe, sogenannte Anthocyane, entstehen nur, wenn Bäume tagsüber noch viel Zucker durch Photosynthese produzieren, es nachts aber schon zu kalt ist, um diesen vollständig aus den Blättern abzutransportieren. Manche Bäume, wie der nordamerikanische Zuckerahorn produzieren besonders viel davon - und sind für ihre ausgeprägte Herbstfärbung berühmt ("Indian Summer").

Aber lasst Euch nicht verdrießen. Ein Waldspaziergang lohnt sich immer, auch wenn die Blätter nur gelb statt rot sind ...







IMG_8296


1. August 2014

"Verwirrte und Verwirrer: Wer ist hier eigentlich bescheuerter?

Früher kritisierte man Verschwörungstheorien, weil sie wahnhaft Erklärungsmuster spinnen, die sich jeder Überprüfung entziehen und keine Aufklärung über die tatsächlichen Machtverhältnisse liefern können. Heute ist alles "Verschwörungstheorie", was überhaupt nach Machtverhältnissen fragt. Wir haben die 'Verwirrten', die montags auf die Straße gehen, weil sie meinen, sie würden seit Jahrzehnten von den Massenmedien belogen, von Geheimdiensten ausgespäht und von einer Regierung regiert, die von Industrie- und Finanzlobbyisten manipuliert wird. Und wir haben Journalisten, Intellektuelle und Politiker, die ihnen darauf antworten, das sei alles verschwörungstheoretischer Quatsch. Wer ist hier eigentlich bescheuerter?

Die neuen Montagsdemos sind im Kern vor allem Ausdruck einer Legitimationskrise des neoliberalen Systems, wie es sich nach 1989/90 selbstherrlich ('Ende der Geschichte') konstituiert hat. Das Unbehagen, das sich dort Bahn bricht, ist völlig legitim und ein Fortschritt. Dass dort Scheiße mit hochkommt, ist nicht schön, aber kaum vermeidbar. 'Reichsbürger', Querfrontler, Antisemiten und VT-Spinner, offene und verkappte Nazis, die versuchen, hier Punkte zu machen, müssen bekämpft werden - aber indem man zeigt, dass sie falsche Antworten geben, aber gewiss nicht, indem man alle die, die jetzt die Herrschaftsverhältnisse zaghaft in Frage stellen, als 'Neurechte' beschimpft und sie anweist, zu Hause zu bleiben, weil wir ja schon in der besten der Welten leben.

'Verwirrtsein' ist - nicht zuletzt nach zweieinhalb Jahrzehnten Privatfernsehen und einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich alle Mühe gibt, selbst auf dieses 'Niveau' zu kommen - ein gesellschaftlicher Normalzustand. Die 'Quelle der Verwirrung' sind die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und hier passt nichts besser als Horkheimer: 'Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.'"

9. Mai 2014

We could have been liberated by angels and elves, but they did not come.

Спасибо солдатам Красной Армии

8. Mai 2014

Wir sehen zuerst, was wir sehen wollen

Wir sehen zuerst, was wir sehen wollen. Dann hören wir, was wir hören wollen. Dann folgt sehr lange nichts. Und dann, irgendwann, kommt die Wahrheit. So ähnlich sagt es ein FBI-Beamter in Tom Tykwers Polit- und Bankenthriller The International von 2009. Überhaupt enthält der Film dank Drehbuchautor Eric Warren Singer einige grandiose Dialoge. Über unsere Wahrnehmungsstörungen bei der Suche nach der Wahrheit stolpere ich in diesen Tagen öfters. Bereiten große Teile der Massenmedien einen Krieg vor? Ein Kollege und guter Freund, einer der hellsten Köpfe und besten politischen Analytiker, die ich kenne, sagt nein. Ich reibe mir die Augen. Offenbar sitzen wir jeder in einem anderen Film.

Weder Deutschland, noch die USA, weder Nato noch EU haben Interesse an einem militärischen Konflikt mit Russland, sagt mein Freund. Offenbar ist "Krieg" für ihn nicht unterhalb eines thermonuklearen Konflikt mit Interkontinentalraketen und nuklearem Overkill denkbar. So gesehen mag mein Freund recht haben. Hoffe ich wenigstens.

Leider ist ihm entgangen, dass das deutsche Verteidigungsministerium - unter, sagen wir mal: eigenwilliger Auslegung eines OSZE-Dokuments - bereits deutsche Militärberater in die Ukraine geschickt hat, was nur aufflog, weil sie sich von Rebellen haben erwischen lassen. Auch wenn man sie uns zunächst als "OSZE-Beobachter" und später - noch irrer - als "Diplomaten" unterjubeln wollte: Es ist klar, dass sie dort waren, um die Lage in der Ostukraine auszukundschaften, Stellungen der Rebellen zu rekognoszieren - nun, kurzum, die Regierung in Kiew im Bürgerkrieg zu unterstützen. "Wir" sind also bereits Kriegspartei. Man kann das natürlich auch anders sehen. Gar nicht zum Beispiel.

5. März 2014

Der Berg ruft

Skilanglauf als Zeitreise: Wintersport im Dreiländereck zwischen Polen, Böhmen und Sachsen 

Von Jörn Boewe, junge Welt Reisebeilage, 5. März 2014

Wir fahren zum Wintersport in die Berge: Ein kleines, erschwingliches Gebirge soll es sein, gut mit der Bahn zu erreichen, aber halbwegs schneesicher. Unser Low-Budget-Gegenprogramm zu Sotschi.


6. Januar 2014

Wende über Backbord


Nach fast zwei Jahrzehnten schließe ich den Blog www.jboe-reporting.de. Ich bin seit zwanzig Jahren im Geschäft und gehe langsam auf die 50 zu. Irgendwie ist mir nach etwas Subtilerem zumute als "Beruf Reporter". Ich meine, mittlerweile ist das so sehr mein Beruf, dass es mir komisch vorkommt, es besonders zu betonen.

Hier also die News:

1. Es gibt einen neuen Blog, in den ich ein paar von den alten Geschichten mit rüber genommen habe.

2. Es gibt den Blog der Firma.

3. Der alte Blog www.jboe-reporting.de,  der sich seit 1994 über die Jahre zu einer brauchbaren Artikelsammlung entwickelt hat, insbesondere bei Themen, wo ich ziemlich weit vorn mitgespielt habe - Stichworte: Berliner Wasserbetriebe, Gewerkschaften, BND-Untersuchungsausschuss - bleibt als Archiv für Recherchen erhalten. Einzige Einschränkung: Man muss sich künftig anmelden, dann gibt's die Freischaltung. Wer das gern tun würde, aber mit der Technik nicht klarkommt, darf mir gern eine Mail schicken.




»No history is written honestly. You have to keep in touch with it at the time and you can depend on just as much as you have actually seen and followed. (…) Because it isn't all in Marx nor in Engels, a lot of things have happened since then.«

Ernest Hemingway, Old Newsman writes. A letter from Cuba (Esquire, Dec. 1934)



5. Januar 2014

Salzwasser

Seit ich 1996 auf der Stocznia Gdanska für meine Reportage »Nachhutgefechte in Danzig« recherchierte, habe ich immer wieder über die Verbindung von Mensch und Meer geschrieben. Der Grund ist simpel. Die Seeluft, der weite Horizont, Möwengeschrei, Fisch, Salzwasser. All das tut mir in jeder Hinsicht gut. Ich habe keine romantische Vorstellung von der Arbeit im maritim-logistischen Komplex. Seefahrt muss sein, aber sie ist am schönsten, wenn man sie zum Vergnügen betreiben kann. Leider gehört sie zu den Vergnügungen, die ich mir kaum leisten kann. Aber wenn ich es schon viel zu selten schaffe, an Küsten, auf See und Inseln Urlaub zu machen – dann muss ich mir eben passende Arbeit suchen ...

Mit der Gaffelketsch »Albin Köbis« auf der Unterwarnow, Juli 2010