6. Dezember 2014

Wo Willy Brandt recht hatte und wo er sich irrte

Es war ein unglaubliches Gedränge vor der Rostocker Marienkirche, heute vor 25 Jahren. Willy Brandt sollte eine Rede halten. Die Stimmung war fiebrig, die festgezurrten politischen Verhältnisse waren ins Wanken geraten, der Turm begann einzustürzen, aber es war noch nicht klar, in welche Richtung er kippen würde. Vor einem Monat hatte es eine Massendemonstration der Opposition auf dem Alexanderplatz gegeben, seit vier Wochen war die Mauer offen. Vor drei Tagen hatten Hunderttausende eine Menschenkette von Kap Arkona zum Fichtelberg gebildet - eine Aktion, die unter der Losung "Ein Licht für unser Land" stand, und nach 25 Jahren bundesdeutscher Geschichtsklitterung praktisch aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht ist, weil das Land, von dem da die Rede war, ausschließlich als "Unrechtsstaat" erinnert werden darf und sonst nichts.

Ende November '89 erst war ein geheimes Waffenlager südlich von Rostock entdeckt worden, und man wusste nicht, was das bedeutete, am 4. Dezember war der Rat des Bezirkes zurückgetreten und der Stasi-Chef von Rostock zeitweilig festgenommen worden. Ein Bürgerkomitee hatte die MfS-Verwaltung besetzt, die Vernichtung von Akten gestoppt und das Gebäude der Volkspolizei übergeben (die neuerdings großen Wert darauf legte, Freund und Helfer des Volkes zu sein.) Jetzt sollte Willy Brandt sprechen.

Ich war mit ein paar Freunden dort, die meisten waren auf dem linken Flügel der Bürgerbewegung aktiv, wir waren gespannt, was dieser Mann zu sagen hatte, Willy Brandt, der gegen Faschismus und Restauration gekämpft hatte, gegen den westdeutsche Rechtsextremisten Mordaufrufe erhoben hatten ("Brandt an die Wand"), der die Entspannungspolitik eingeleitet hatte und anders war als alle westdeutschen Politiker vor- und nachher. Wir waren skeptisch, weil in den letzten Wochen eine dumpfe deutschnationale Welle angerollt war, die ihren Höhepunkt längst noch nicht erreicht hatte, und es war klar, dass die SPD nicht die Partei war, die sich solchen Stimmungen entgegenstellen würde.

Brandt sagte einen Satz, der heute immer wieder gern zitiert wird. "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört." Meine Freunde und ich fanden das damals schon etwas unheimlich. Uns war zwar nicht ganz klar, worauf die Situation hinauslaufen würde, aber eins stand fest: Ein Zusammenwachsen würde es nicht sein. Hier irrte Willy Brandt. Zweifellos hätte er sich ein Zusammenwachsen gewünscht. Aber ich glaube, er ahnte selbst, dass es mächtigere Kräfte in Deutschland gab, die das verhindern würden. Er sagte damals nämlich noch andere Sachen, die heute nicht mehr zitiert werden. "Eine Wiedervereinigung kann ich mir schwer vorstellen. Es wird nichts mehr so sein, wie es war." Und damit hat er recht behalten. Es gab tatsächlich keine "Wiedervereinigung". Die DDR wurde von der BRD annektiert, wobei ich natürlich nicht bestreite, dass Kohl's Marionettenregierung in Ostberlin demokratisch gewählt war. Aber soweit ich sehe, haben im März 1990 prozentual weniger Wähler für die Parteien gestimmt, die für einen bedingungslosen Beitritt der DDR zur BRD ohne Verfassungsdiskussion usw. angetreten waren, als im Frühjahr 2014 für den Anschluss der Krim an Russland.

Und noch etwas gab Brandt damals den Rostockern auf den Weg: "Vergesst nicht jene, denen es schlechter als uns Deutschen geht." Sie haben ihren Willy damals bejubelt, aber ich bin nicht sicher, ob sie gut zugehört haben.