26. Oktober 2012

»Dann kriegen wir ihn in Veracruz«

Mit »Billigflaggen« unterlaufen Reeder Tarifverträge der Handelsschiffahrt. Dagegen setzt die Internationale Transportarbeiterföderation auf die Solidarität von Seeleuten und Hafenarbeitern

Von Jörn Boewe, junge Welt, 27./28. Okt. 2012

»Weg, ausgelaufen«, sagt Hamani. »Gerade kommt die Meldung, daß er heute früh ausgelaufen ist.« Die Volunteers hören auf zu kauen und schauen den Inspektor an. Gestern wollten sie diesen Frachter kontrollieren. Schon standen sie auf der Gangway, da ging – beim Löschen der Ladung – ein Schwerlastgang am Schiffskran kaputt. Sie hätten darauf bestehen können, an Bord zu gehen. Aber sie wissen, wie heikel es ist, wenn drei Tonnen Last außenbords am Haken hängen. Die Volunteers sind Hafenarbeiter. Wir kommen wieder, wenn der Kran repariert ist, sagten sie.


Wismar, die Nummer fünf unter den deutschen Osteehäfen. Dreieinhalb Millionen Tonnen gehen hier jährlich über die Kaikante

Die Volunteers sind Typen, die eher in die Breite gehen, aber jetzt machen sie lange Gesichter. Sie sitzen um den Tisch, Brötchen auf dem Teller, im Gewerkschaftshaus in der August-Bebel-Straße in Rostock. ITF-Inspektor Hamani Amadou sitzt an seinem Computer und schaut ins Internet. »Das macht nichts«, sagt er. »Dann kriegen wir ihn in Veracruz.«

5000 Seemeilen südwestlich gibt es einen neuen Job für Capitán Enrique Lozano, der davon noch nichts weiß. Wenn er nicht auf dem Malecón La Bamba tanzt, liegt er vermutlich in seiner Koje, denn es ist halb zwei Uhr nachts. Jedenfalls kriegt er gerade eine E-Mail von seinem Kollegen aus Rostock. Wenn der Inspektor der »ITF Americas« in den nächsten Tagen seine Kontrollfahrt durch Mexikos wichtigsten Atlantikhafen macht, wird er sich ein Stückgutschiff unter liberianischer Flagge und deutscher Bereederung ein bißchen genauer ansehen. Und wenn der Schwerlastgang am Bordkran schlappmacht, während drei Tonnen Fracht außenbords am Haken hängen, wird Enrique nur müde lächeln und sagen: »No mames, guey. Erzähl keinen Scheiß.«

In Rostock spülen die Volunteers ihr Frühstück mit Kaffee runter, ziehen ihre gelben Warnwesten an und gehen zum Parkplatz. ITF- und ver.di-Fähnchen werden an die Autos gesteckt. Die Fahrt geht nach Wismar, 60 Kilometer nach Westen über die Ostseeautobahn. Dreieinhalb Millionen Tonnen Fracht gehen dort jährlich über die Kaikante. Damit ist Wismar immerhin Nummer fünf unter den deutschen Ostseehäfen. In Rostock werden knapp 20, in Hamburg über 100 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen. Nicht 400 Millionen wie in Rotterdam oder 500 bis 600 Millionen wie in Schanghai. Wismar ist überschaubar.

Jedes Jahr Anfang September führt die Internationale Transportarbeiterföderation ihre »Baltic Action Week« durch: Schiffe in allen größeren, aber auch vielen kleineren Ostseehäfen, außerdem in Hamburg, Bremen und Bremerhaven, werden durch ITF-Inspektoren, verstärkt durch Freiwilligenteams, kontrolliert. Es geht um die Einhaltung von sozialen Mindeststandards an Bord, hygienische Bedingungen, pünktliche Heuerzahlung, Tarifverträge usw. – vor allem bei Fahrzeugen unter Billigflaggen. Reeder lassen ihre Schiffe in Staaten wie Panama, Liberia, Äquatorialguinea, Malta registrieren, um Heuer und Steuer zu sparen. Niedrigere Sozialabgaben und Sicherheitsstandards, laxere Besatzungsvorschriften machen das Modell für die Reeder attraktiv. Für den Billigflaggenstaat sind die vergleichsweise geringen Gebühren und Abgaben eine wichtige Deviseneinnahme. 34 solcher »Gefälligkeitsflaggen« (»flags of convenience«) zählt die ITF momentan. Darunter sind die von Binnenstaaten wie der Mongolei, Moldawiens und Boli­viens, der Steueroase Cayman Islands, des britischen Überseegebietes Gibraltar, aber auch von Frankreich und Deutschland mit seinem 1989 eingeführten Internationalen Zweitregister.

An der Einfahrt aufs Hafengelände in Wismar zeigt Hamani seinen ITF-Ausweis. Wie von Zauberhand öffnet sich das Tor. Es ist ein bißchen mysteriös: Obwohl sie der Schrecken von Reedern und Hafenstauereien sind, haben die Inspektoren und Freiwilligenteams der Internationalen Transportarbeiterföderation freien Zugang zu Häfen und Schiffen. Fragt man Gewerkschaftsfunktionäre nach dem Grund, verweisen sie auf Artikel 9 des Grundgesetzes, der die Koalitionsfreiheit regelt. Fragt man Juristen, bekommt man von jedem eine andere Antwort. Ich schreibe in mein Notizbuch: »Man kann das irgendwie juristisch herleiten. Es dürfte aber auch noch einen anderen Grund geben.«


ITF-Inspektor Hamani Amadou: »C’est la globalisation.«

Ein Küstenmotorschiff hat an einem der sechzehn Liegeplätze festgemacht. Es bringt Baumstämme aus Klaipeda für das Spanplattenwerk im Gewerbegebiet am Hafen. Das Schiff gehört einer Reederei aus Niedersachsen. Die Volunteers sind gebrieft: Christian und Stefan inspizieren Mannschaftsunterkünfte und Maschinenraum, Hamani und die Rostocker prüfen die Schiffspapiere in der Kapitänskajüte. Die anderen Lübecker sollen versuchen, unauffällig mit den Filipinos vom Nachbarschiff Kontakt aufzunehmen. Das funktioniert nur, wenn die absolut sicher sind, daß kein Offizier etwas davon mitbekommt. »Ihr wißt Bescheid«, sagt Hamani. »Die können schnell auf die schwarze Liste kommen.« Wer Ärger macht, bekommt von den Crewing Agencies keinen neuen Vertrag.

»We are one family«

An Bord wartet schon der Kapitän, der »Master«, wie es in der Handelsschiffahrt heißt. Er ist ein bißchen aufgeregt. Zeit ist Geld, und wenn die Inspektion schlecht läuft, kann ihn das viel Liegezeit kosten. Hamani gibt ihm die Hand und redet ruhig, in einfachen englischen Sätzen. »Today I come together with an ITF volunteer team«, sagt er und zeigt auf die Hafenarbeiter. »Because dockers and seafarers, we are one family.« Der Master nickt. Die Volunteers tragen sich in eine Liste ein, dann können sie sich an Bord frei bewegen. In der Kajüte legt der Kapitän Hamani die Dokumente vor: Tarifvertrag, Crewliste, Gehaltsabrechnung. Hamani überprüft jeden Posten. Die Papiere sind in Ordnung. Die Mannschaftsunterkünfte sind aufgeräumt, Küche und Kühlraum sauber. Der Motorman zeigt mir den Maschinenraum. Alles blitzt und blinkt. Der Motorman lacht. »It’s not always so clean«, sagt er mit einem Augenzwinkern. Nicht nur die Gewerkschaft bereitet sich auf ihre Aktionswoche vor, auch die Reeder tun das.

Christian und Stefan kontrollieren die Mannschaftsräume
 Hier ist nichts zu machen. Auf diesem Schiff ist alles tipptopp. Hamani zeigt den Volunteers die Dokumente, er erklärt, worauf es ankommt: Was genau muß kontrolliert werden, wo sind die kritischen Punkte? »Ich kann morgen ausfallen, und meine Stelle wird vakant«, sagt Hamani. »Dann muß vielleicht einer von euch meinen Platz einnehmen.« Die Baltic Week ist ein bißchen Schaulaufen, und das ist okay. Hamani macht einen Trainingslauf daraus, und das ist noch besser. »Hafenarbeiter und Seeleute gemeinsam«, sagt er, »darum geht es hier. Das ist das Wichtigste. Ich kontrolliere jeden Tag Schiffe. Aber die Hafenarbeiter einzubeziehen, das ist das Besondere an dieser Aktion.« Die Volunteers machen das einmal im Jahr, manche zum ersten Mal, andere seit langem. Sie nehmen eine Woche Urlaub, und die ITF übernimmt Kost und Logis. Es geht darum, den eigenen Arbeitsplatz etwas sicherer zu machen, aber sie haben auch ihren Spaß.

Die Waffe des Boykotts

Zweimal – 2003 und 2007 – hat die EU-Kommission in Brüssel versucht, die sogenannte Selbstabfertigung in der europäischen Hafengesetzgebung durchzusetzen. Reedereien hätten ihre Schiffe künftig durch die Besatzungen oder anderes eigenes Personal mit bordseitigem Ladegeschirr be- und entladen lassen können. Bei großen Containerschiffen ist das nicht so einfach, bei Ro-Ro-Schiffen, Stück- und Schüttgutfrachtern schon. Zweimal stoppten die Hafenarbeiter die Pläne mit politischen Streiks: Die Richtlinienentwürfe »Port Package I« und »II« schafften es beide nicht durchs Europaparlament. Hätte sich die Kommission durchgesetzt, wären nicht nur Arbeitsplätze und Löhne in den Häfen unter Druck geraten. Bedroht gewesen wäre auch die Streikfähigkeit der meist gut organisierten Hafenarbeiter. Deren Macht ist das schärfste Schwert der ITF seit ihrer Gründung. »Dockers organize sea­farers – seafarers organize dockers«, steht auf den gelben Warnwesten: Hafenarbeiter organisieren Seefahrer, Seefahrer organisieren Hafenarbeiter. Für manchen mag das klingen wie einer dieser Sprüche aus sozialistischen Sonntagsreden, Folklore der Arbeiterbewegung: Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ … Tatsächlich geht es um handfeste Dinge. Boykottieren die Docker das Löschen der Ladung, geraten die minutiös abgestimmten Routenpläne der Schiffe durcheinander, und die Reeder verlieren Geld, viel Geld.

Als 1896 in Rotterdam die Hafenarbeiter in den Streik traten, forderten englische Reeder ihre Schiffsbesatzungen auf, die Ladung selbst zu löschen. Die weigerten sich, ihren streikenden Kollegen an Land in den Rücken zu fallen. Das war die Geburtsstunde der ITF.

Die Hafenarbeiter haben diese Solidarität der Seeleute seither mehr als erwidert. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Schiff schwieriger zu bestreiken ist als eine Fabrik. Dennoch ist es der ITF um die Jahrtausendwende als erster Gewerkschaft überhaupt gelungen, einen weltweit gültigen Tarifvertrag abzuschließen. Die Mindestheuer für Seeleute liegt danach bei rund 1700 Dollar im Monat. Das Abkommen nützt vor allem Beschäftigten aus Staaten, in denen Gewerkschaften keine besseren Vereinbarungen auf nationaler Ebene abschließen konnten. Matrosen aus der Dritten Welt fahren zum Teil für 400 bis 600 Dollar. Während sich heute ein gewisser Mangel an Schiffsoffizieren und Ingenieuren bemerkbar macht, sieht es auf dem globalen Arbeitsmarkt für einfache Decksleute und Maschinisten anders aus. Traditionelle Seefahrernationen der sogenannten Dritten Welt, wie die Philippinen, konkurrieren mit Russen und anderen Osteuropäern. Das Angebot an Arbeitskräften ist unerschöpflich. Ein akzeptabler Mindeststandard mußte her. Durchgesetzt hat ihn die ITF nicht mit Streiks der Matrosen – das wäre kaum möglich gewesen –, sondern mit der Waffe des Boykotts. Jede zusätzliche Stunde, die ein Schiff am Kai liegt, tut den Reedern auf dem Konto weh. So hat die fortschreitende Globalisierung eine Kehrseite, die – richtig angepackt – die Macht der organisierten Arbeiterschaft stärken kann: »Die Just-in-time-Produktion«, zitiert die Zeitschrift Mitbestimmung den ITF-Generalsekretär David Cockroft, »ist zu einem unserer wichtigsten Verbündeten geworden.«

Ein afrikanischer Gewerkschafter aus dem Binnenland Niger geht in einem mecklenburgischen Provinzhafen, begleitet von einem Trupp Docker aus Rostock und Lübeck, auf das Schiff einer ostfriesischen Reederei. Der Kapitän ist Litauer, der Chief Mate Ukrainer, der Ingenieur Russe, und die vier Decksleute sind Filipinos. Alle sind sie angestellt bei einer Crewing Agency mit Sitz in Limassol. Unter der Flagge von Antigua und Barbuda pendelt das Küstenmotorschiff zwischen Riga und Wismar, Klaipeda und Helsingør Havn. Seinen Heimathafen St. John’s hat es noch nie gesehen. »Oui, c’est ça«, sagt Hamani. »C’est la globalisation.«

Einer der Volunteers geht zurück zum Auto. Er will heimlich eine Zigarette rauchen. Wegen des Brandschutzes ist das hier streng verboten, nicht mal die mächtige ITF darf sich das erlauben. Aber Sucht ist kein Spaß. Der Gewerkschafter öffnet die Kofferklappe, um einen besseren Sichtschutz zu haben und zieht verstohlen an seiner Fluppe.

Philippinische Seeleute mit der ITF-Zeitschrift Transport International im Wismarer Hafen, Anfang September 2012

Zwei philippinische Seeleute schaffen mit einem Rollwagen Müllsäcke weg und schauen herüber. Jetzt kommen sie mit dem leeren Wagen zurück und steuern in großem Bogen auf den Transporter mit der ITF-Fahne zu. Ganz sachte drehen sie bei. Sie bleiben so stehen, daß der Transporter zwischen ihnen und ihrem Schiff steht und die Sicht verdeckt. »You want smoke? Cigarette?« fragt der Volunteer. »No, no«, sagen die Filipinos. »We want the papers.« Der Volunteer drückt ihnen das ITF-Magazin Transport International in die Hand, auf Spanisch und Tagalog. »Thank you«, sagen die Filipinos und lächeln. »God bless you and good luck.«