Früher kritisierte man Verschwörungstheorien, weil sie wahnhaft Erklärungsmuster spinnen, die sich jeder Überprüfung entziehen und keine Aufklärung über die tatsächlichen Machtverhältnisse liefern können. Heute ist alles "Verschwörungstheorie", was überhaupt nach Machtverhältnissen fragt. Wir haben die 'Verwirrten', die montags auf die Straße gehen, weil sie meinen, sie würden seit Jahrzehnten von den Massenmedien belogen, von Geheimdiensten ausgespäht und von einer Regierung regiert, die von Industrie- und Finanzlobbyisten manipuliert wird. Und wir haben Journalisten, Intellektuelle und Politiker, die ihnen darauf antworten, das sei alles verschwörungstheoretischer Quatsch. Wer ist hier eigentlich bescheuerter?
Die neuen Montagsdemos sind im Kern vor allem Ausdruck einer Legitimationskrise des neoliberalen Systems, wie es sich nach 1989/90 selbstherrlich ('Ende der Geschichte') konstituiert hat. Das Unbehagen, das sich dort Bahn bricht, ist völlig legitim und ein Fortschritt. Dass dort Scheiße mit hochkommt, ist nicht schön, aber kaum vermeidbar. 'Reichsbürger', Querfrontler, Antisemiten und VT-Spinner, offene und verkappte Nazis, die versuchen, hier Punkte zu machen, müssen bekämpft werden - aber indem man zeigt, dass sie falsche Antworten geben, aber gewiss nicht, indem man alle die, die jetzt die Herrschaftsverhältnisse zaghaft in Frage stellen, als 'Neurechte' beschimpft und sie anweist, zu Hause zu bleiben, weil wir ja schon in der besten der Welten leben.
'Verwirrtsein' ist - nicht zuletzt nach zweieinhalb Jahrzehnten Privatfernsehen und einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich alle Mühe gibt, selbst auf dieses 'Niveau' zu kommen - ein gesellschaftlicher Normalzustand. Die 'Quelle der Verwirrung' sind die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und hier passt nichts besser als Horkheimer: 'Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.'"