21. April 2012

Hoy no circula

Zehn vor fünf mußte ich aus dem Haus, damit ich um sieben bei General Motors war. Einmal von Süd nach Nord durch die ganze Stadt. Lucas, der wahnsinnige Taxifahrer, mit dem ich die Wohnung teilte, surfte mit seinem grünen VW-Käfer irgendwo durch die unendlichen Weiten Mexico Citys. Wenn jemand für Lucas anrief, wußte ich nie, ob er gerade »immer noch« oder »schon wieder« arbeitete. Es war sowieso dasselbe. Luke Skywalker flog durch den Hyperraum, wo die Begriffe der Newtonschen Physik keine Anwendung mehr fanden.


Ich sprang aus der Dusche, die mich um diese Uhrzeit nie enttäuschte, das heißt, es kam Wasser heraus (kaltes), trocknete mich in der kleinen Küche ab, wärmte meine Hände an der Kaffeetasse und überlegte, ob ich mir ein paar Maistortillas auf der Herdplatte ankokeln sollte, da klingelte das Telefon.
»Nein«, sagte ich in den Hörer, »Ja, immer noch.« Ich bevorzugte das »immer noch«, wenn jemand nach Lucas fragte. Erstens lag eine Spur Optimismus darin, und zweitens betonte es den vorläufigen Charakter von Lukes Mission, denn ewig konnte dieser Wahnsinn nicht weitergehen. »Lesen Sie heute den Polizeireport in der Jornada«, sagte ich. »Wenn ich bis morgen nichts von ihm höre, rufe ich beim Verkehrsdezernat an.« Ich legte auf. Die Dame war ziemlich nervös gewesen. Skywalker hatte eigentlich keine Frauengeschichten mehr. Es war wohl eine von den sieben oder acht ledigen Müttern gewesen, denen er Unterhalt für soundsoviele kleine schwarzhaarige und schwarzäugige Mexibälger zahlen mußte.

Ich würde nicht vor Dienstag bei den Bullen anrufen. Das waren noch vier Tage. Wenn man bis dahin nicht eine dreckige Socke von Skywalker vor die Nase bekam, lag das im Rahmen seiner Möglichkeiten. Aber dienstags hatte sein Käfer Fahrverbot, hoy no circula, eine Regelung, die die Regierung des Distrito Federal (D. F.), der größten Stadt der Dritten und überhaupt der Welt, in den Achtzigern eingeführt hatte, als es immer mehr Leuten auffiel, daß der Smog unerträglich wurde. Jedes im D. F. zugelassene Fahrzeug mußte an einem bestimmten Wochentag stehenbleiben, an welchem, hing von der Ziffernkombination auf dem Nummernschild ab. Das Ganze hatte natürlich überhaupt nichts geholfen. Es war nur eine zusätzliche Einnahmequelle für korrupte Beamte, die Ausnahmegenehmigungen ausstellten oder Strafzettel verschwinden ließen.

Ich schloß die Tür und stolperte die Treppe hinunter. Ich lag noch einigermaßen in der Zeit, bloß die Haustür ging nicht auf. Ich stemmte meine 140 Pfund dagegen, und sie ließ sich einen Spalt breit öffnen. Ein fetter Straßenköter hatte sich zum Schlafen davor gelegt. Moment, dachte ich, seit wann gibt es in dieser Stadt fette Straßenköter? War das jetzt das ökonomische Take-off, der Absprung in die Erste Welt? Hatte man den Präsidenten für seine Wirtschaftspolitik zu Unrecht gescholten? Ich hatte mich geirrt. Das war kein dicker Hund. Das war ein Knäuel aus drei Hyänen-Coyoten-Bastarden, die sich unter dem Druck meines Frontalangriffs umständlich entknoteten und schlaftrunken davonhumpelten. Alle drei waren vom selben undefinierbaren Ockergelb wie die ganze Colonia Zapote, wie die Delegación Guerrero, Ciudad Neza und alle diese Arbeiter- und Armenviertel, die mit aller Kraft gegen den Abstieg in den Status von Slums ankämpfte. Den ersten Stau des Tages hatte ich also überwunden, bevor ich meinen linken Fuß vor die Haustür setzte.

(México D. F. 1994)