6. Dezember 2025

Am Rand der sichtbaren Dinge

Vom S-Bahnhof Bellevue ist es kein weiter Weg zur Spree. Abends liegt der Fluss schwer zwischen den Ufermauern, wie ein technisches Becken.


Die S-Bahn rattert auf dem Stahlbogen über das Wasser, rot-gelbe Waggons ziehen im engen Rhythmus vorbei. Unten gehen zwei Gestalten über den schmalen Steg, geduckt unter der Konstruktion, als gehörten sie nicht zur gleichen Stadt wie die, die oben vorbeifährt. Die Lampen werfen ein gelbes Dreieck ins Schwarz, es schwimmt kurz, verliert die Kontur, verschwindet.


Man geht ein paar Minuten, dann öffnet sich das Ufer. Die alten Steinlaternen stehen da wie Überreste eines Katalogs über gute Regierungsarchitektur, irgendwann zwischen Kaiserzeit und demokratischem Verwaltungswillen abgelegt. Im Licht flirren kleine Insekten, obwohl es Winter ist; vielleicht Dreck, vielleicht Feuchtigkeit. Alles ist möglich in diesem Dämmerlicht.


Das Bundesinnenministerium liegt wie ein gesichertes Rechenzentrum an der Spree. Ein Zaun, Kameras, rote Punkte. Der Staat lebt hier nicht als Idee, sondern als Hochsicherheitsschleuse. Er spricht nicht von Vertrauen. Er spricht von Zugriff. Schilder sagen, wo man gehen darf, wo nicht: Fußgänger frei, steht da.

Ein Satz, der klingt, als könnte er auch widerrufen werden.


Das Spreeufer macht einen Bogen nach rechts. Der Wind presst den Geruch von kaltem Wasser gegen die Häuserkante. Auf der gegenüberliegenden Seite taucht das große, beleuchtete Raster der Neubauten auf. Büros. Ministerien. Alles im gleichen Ton. Wenn man lange genug hinsieht, könnte man meinen, sie seien nicht gebaut, sondern einfach eingeschaltet worden.

Zwischen Moabiter Brücke und dem heutigen Innenministerium lagen früher die Kohlen- und Holzlagerplätze der Moabiter Werften. Hier kamen die Schleppkähne an, hier arbeiteten Bootsbauer, Kutscher, Heizer. Die Wege, auf denen man heute Richtung Reichstagsufer geht, waren damals Arbeitswege von Metallern, Hafenarbeitern und Transportleuten. Von dieser Arbeiterküste ist nichts geblieben, nur die gerade Kante des Ufers — sauber, gespült, historisch stumm.

Von der Turmstraße und der Rathenower Straße kamen einst die Dienstmädchen und Textilarbeiterinnen täglich über die Moabiter Brücke. 1929 drängten sich im Moabiter Gesellschaftshaus mehr als 400 Delegierte zum ersten Reichskongress werktätiger Frauen. Auf dem Uferweg zwischen Bellevue und Kanzleramt keine Spur davon. Als hätte Berlin seine soziale Frage hier nie gestellt.

Keine fünf Minuten Weg vom Kanzleramt, an der Wilhelmstraße, haben die europäischen Mächte 1884/85 Afrika unter sich aufgeteilt. Die Regierungsbauten von heute stehen in Sichtweite dieser Geschichte — und verhalten sich, als sei das ein fremder Planet. Der Raum bleibt blank, Absicht oder Routine.

Nur wenige Gehminuten in die andere Richtung, entalng der Heidestraße, entstanden in den frühen 60ern die ersten großen Wohnheime für „Gastarbeiter“. Viele arbeiteten auf Baustellen, bei Siemens oder im Reinigungsgewerbe und kreuzten täglich die Routen der heutigen Touristenströme. In den glänzenden Fassaden der Berliner Republik spiegelt sich nichts davon — kein Hinweis auf die Menschen, deren Arbeit die neue Hauptstadt erst möglich gemacht hat.


Am Futurium steht ein Fahrradkurier, der auf sein Handy starrt. Hinter ihm drückt sich das Gebäude nach außen, als wolle es beweisen, dass Zukunft in Berlin vor allem eines ist: eine Frage der Beleuchtung. Innen die große organische Struktur, glatt, kuratiert. Sorgfältig gesetzt für Menschen, die Zeit haben, darüber nachzudenken, wie alles einmal werden soll. Draußen die, die dafür keine Zeit haben. Innen das Modell der lichten Zukunft. Draußen der Fahrradkurier, der die Gegenwart liefert. Zwei Systeme, die einander nicht berühren.

 
Weiter vorn spaltet eine Brücke den Himmel. Marie-Elisabeth-Lüders- und Jakob-Kaiser-Haus liegen da wie öffentliche Maschinen aus Glas und Beton. Als hätte jemand die Blaupause einer idealen Parlamentsarchitektur direkt auf die Wasseroberfläche gelegt. Rundbau, gläserne Brücke, überhöhte Treppenläufe — alles geordnet, alles sichtbar, alles angeblich durchschaubar.


Aber Transparenz ist hier ein ästhetisches Konzept, kein politisches. Man darf hineinsehen, ohne zu wissen, was dort wirklich verhandelt wird. Ein Raster aus Licht und Glas, wie ein Versprechen, das nie eingelöst wurde: Transparenz. Was man sieht, sind Etagen, Abläufe, Büroflächen — lauter Räume, in denen Öffentlichkeit verwaltet wird, ohne dass sie entsteht. Das Hauptquartier der Berliner Republik wirkt wie ein Raumschiff, das hier gelandet ist, weil jemand irgendwo beschlossen hat, dass Demokratie künftig am besten klimatisiert funktioniert.
 

Drüben steht der Reichstag. Er sieht alt aus, obwohl er dauernd erneuert wird. Er leuchtet ein wenig, aber nicht wie früher, als er so getan hat, als wäre er das Zentrum der Republik. Jetzt wirkt er wie ein älteres Ensemblemitglied, das man noch im Stück lässt, obwohl die eigentliche Handlung längst woanders stattfindet. Die Kuppel glimmt wie ein Nachtlicht für eine Republik, die sich fürchtet, im Dunkeln zu stolpern.


Ein Ausflugsschiff fährt vorbei, langsam, wie ein Warmhaltewagen für touristische Stimmungen. Drinnen sitzen Menschen, die die Stadt womöglich nie ohne Glas zwischen sich und den Dingen sehen. Das Boot zieht eine Linie Licht hinter sich her. Unterhalb der Treppe stehen die weißen Kreuze im Dunkeln. Man weiß, wofür sie stehen, und gleichzeitig weiß man, dass sie hier fast niemandem auffallen. Sie wirken seltsam verloren, als hätte man sie zum Trocknen an die Ufermauer gehängt.


Der Weg führt weiter unter den großen Platten der Parlamentsarchitektur entlang. Der Beton hängt schwer über dem Wasser. Ein paar Stufen, dann wieder eine Kurve. Unten läuft man wie in einem Wartungsschacht einer viel größeren Infrastruktur.


Drüben, am ARD-Hauptstadtstudio, flackert das blaue Logo. Der Hochleistungs-Augapfel der Republik. Er filmt, was gesagt wird — nicht, was fehlt. Eine Redaktion im Dauerkontaktmodus mit den Machtzentren, die sie kritisch begleiten soll. Zu dicht dran, um wirklich unabhängig zu wirken, zu weit entfernt vom Alltag, um ihn zu verstehen. Schwer zu sagen, wo hier Berichterstattung endet und Resonanzraum beginnt. Ein Ort, der sendet, ohne zu hören. Die Menschen auf der Brücke sehen aus wie Silhouetten aus einem politischen Wetterbericht.

Kurz bevor man die Friedrichstraße erreicht, löst sich der Weg aus dem System der Regierungsbauten. Die Häuser stehen enger, das Licht wird ungleichmäßiger. Auf der Brücke stauen sich Autos. Man hört Schritte, manchmal eine Stimme, die kurz etwas sagt und dann sofort wieder im Wind verschwindet. Die Stadt schweigt nicht, aber sie spricht auch nicht. Sie ist mit sich beschäftigt.

Der Spaziergang endet ohne Pointe.
Berlin erklärt nichts.
Es zeigt.

Und manchmal zeigt es vor allem das, was es lieber verschweigen würde.

14. August 2025

Belgrad, 25 Jahre danach

Die Ruine des Generalstabsgebäudes in der Nemanjina-Straße steht noch. Beton zersplittert, Treppenschächte offen wie Wunden. Gerüchte, man wolle das Ensemble schleifen, flammen alle paar Jahre auf. Ein Investor hier, eine Renditefantasie da. Ende 2024 wurde es konkreter. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić will den Weg freimachen für den Abriss. Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner plant auf dem Areal einen Luxuskomplex: Apartments, Hotel, Büros.

Der Widerstand kam unerwartet. Mitarbeiter des Republikanischen Instituts für Denkmalschutz weigerten sich, den Generalstab aus dem Zentralregister für unbewegliche Kulturgüter zu streichen. Noch steht die Ruine. Als Mahnung, als Störfall im Geschäftsmodell.

Am Kalemegdan weht Abendlicht über die Save. Der Sieger blickt nach Westen. Wer ihm folgt, sieht die Schatten. Die Skyline des neuen Belgrad funkelt, doch unter den Bäumen sitzen alte Männer, schweigend, mit Blick auf ein Land, das es nicht mehr gibt. Die Zukunft wird auf Pfählen gebaut. Die Vergangenheit wohnt daneben, mit durchhängender Wäscheleine. Zwei Belgrads in einem Bild: das glänzende, das bröckelnde. Eines für Investoren. Das andere für alle, die geblieben sind.

Frühjahr 1999: Die NATO beginnt ihren Luftkrieg gegen Jugoslawien. Ohne UN-Mandat, ohne Völkerrechtsgrundlage. In Deutschland spricht man von „humanitärer Intervention“. Minister Scharping präsentiert im Bundestag den sogenannten „Hufeisenplan“ – ein angeblich serbischer Masterplan zur ethnischen Säuberung im Kosovo. Später stellt sich heraus: Der Plan war eine Erfindung von Politikern und Geheimdiensten. Eine gezielte Manipulation zur öffentlichen Rechtfertigung des ersten Kriegseinsatzes der Bundeswehr seit 1945.

SMRT NATO PAKTU, steht an einer Wand  – Tod dem NATO-Pakt. Daneben parkende Fiats, gesenkte Köpfe, leise Gespräche. Wer den Krieg bringt, bekommt Worte zurück. Die Schrift bleibt, wenn Bomben längst verstummt sind.

7. Mai 1999: In den Abendstunden treffen fünf Präzisionsbomben die chinesische Botschaft in Belgrad. Drei Journalisten sterben, 20 Menschen werden verletzt. Washington spricht von einem Navigationsfehler, von veralteten Karten.

Später recherchieren The Observer und Politiken: Der Angriff könnte gezielt gewesen sein, die CIA habe absichtlich falsche Koordinaten geliefert. Offizielle Stellen dementieren. Die Wahrheit bleibt im Nebel. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) stellt die Ermittlungen ein – kein strafbares Verhalten, heißt es.

Nach 78 Tagen war der Krieg gewonnen. Für die UÇK. Eben noch eine Terrororganisation, war die albanisch-nationalistische Guerilla zum Partner des Westens avanziert. Der Preis für den Sieg: 200.000 Menschen, zumeist Serben und Roma, verlassen den Kosovo. Manche sprechen von „ethnischer Korrektur“, andere von einem kalten Tausch. Der Frieden ist asymmetrisch.


 
 
Ein schmaler Gang: Graffiti, Neonlicht, schiefe Schilder. Ein Restposten Jugoslawiens. Die Stadt atmet durch Hinterhöfe. Wo keine Kamera hinschaut, bleibt die Geschichte stehen. Ein Mural mit Fußballerblick. Miloš Milutinović von Partizan Belgrad schaut durch dich hindurch. Das Gesicht der Vergangenheit bleibt jung. Alles andere altert.

 
 
23. März 2025, 16 Uhr, Generalštab. Protest. In kyrillischer Handschrift daneben: ПОБУНА – Aufstand. Heute ist der Generalštab nicht einfach nur eine Ruine. Er ist ein Denkmal für das, was man nicht sagen darf, aber nicht vergessen kann. Er ist ein Zeichen derer, die für die Kushners und Vučićs dieser Welt überflüssig sind, geschäftsschädigend, eine Belästigung.

Der Beton weiß mehr als die offiziellen Berichte. Aber er schweigt.  Auf einer Mauer steht: Сви у штрајк!  –  Alle  in den Streik.  Niemand steht davor. Die Losung ist geblieben. Nur der Streik lässt auf sich warten.





Belgrade, 25 years later

The ruins of the General Staff building still stand on Nemanjina Street. Concrete is shattered, stairwells lie open like wounds. Every few years, rumors flare up about tearing the complex down. An investor here, a return-on-investment fantasy there. By the end of 2024, things got more concrete. Serbian President Aleksandar Vučić wants to clear the way for demolition. Donald Trump’s son-in-law Jared Kushner plans to build a luxury complex on the site: apartments, hotel, offices.

The resistance came unexpected. Staff at the Republican Institute for the Protection of Cultural Monuments refused to strike the building from the central register of immova le heritage. The ruins still stand. As a warning. A disruption in the business model.

Evening light drifts over the Sava at Kalemegdan. The victor looks west. Those who follow his gaze see the shadows. The skyline of New Belgrade sparkles. But beneath the trees, old men sit in silence, looking at a country that no longer exists. The future is built on stilts. The past lives next door, beneath a sagging clothesline. Two Belgrades in one image: the gleaming, the crumbling. One for the investors. The other for those who stayed.

Spring 1999. NATO begins its air war against Yugoslavia. Without UN mandate. Without legal foundation under international law. In Germany, they called it a “humanitarian intervention.” Minister Scharping stood before parliament and presented the so-called Horseshoe Plan – supposedly a Serbian masterplan for ethnic cleansing in Kosovo. Later it became clear: the plan was a fabrication by politicians and intelligence agencies. A deliberate manipulation to justify the first German military combat operation since 1945.

SMRT NATO PAKTU, is written on the wall – Death to the NATO Pact. Next to it: parked Fiats, lowered heads, quiet conversation. Those who bring war get words in return. The writing remains, long after the bombs have fallen silent.

May 7, 1999. In the evening, five precision bombs hit the Chinese embassy in Belgrade. Three journalists are killed, 20 people injured. Washington speaks of a navigation error, of outdated maps.

Later, The Observer and Politiken investigate: The attack may have been deliberate. The CIA is said to have provided false coordinates. Official agencies deny it. The truth remains in the fog. The International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia drops the investigation – no criminal offense, they say.

After 78 days, the war was won. For the UÇK. Just recently labeled a terrorist organization, the Albanian nationalist guerrilla had become a partner of the West. The price of victory: 200,000 people – mostly Serbs and Roma – leave Kosovo. Some call it “ethnic correction,” others a cold exchange.
Peace is asymmetrical.



 
 
A narrow passage: graffiti, neon light, crooked signs. A leftover of Yugoslavia. The city breathes through backyards. Where no camera looks, history stands still. A mural with the gaze of a footballer. Miloš Milutinović of Partizan Belgrade looks right through you. The face of the past stays young.
Everything else ages.


 
 
March 23, 2025. 4:00 p.m., Generalštab. Protest. In Cyrillic script beside it: ПОБУНА – Uprising.
Today, the Generalštab is more than just a ruin. It is a monument to what cannot be said but must not be forgotten. A sign of those who, to the Kushners and Vučićs of this world, are superfluous, bad for business, a nuisance.

Concrete knows more than the official reports. But it remains silent. A wall reads: Сви у штрајк! – All on strike. No one stands in front of it. The slogan remains. The strike has yet to come.





8. Mai 2025

Transit

Airports are promise and loss at once. Places without shelter, built of glass, concrete, and air conditioning. You wait—always wait. For flights, for connections, for arrivals. For coffee that tastes like nothing.

The sky glares. Shadows on the pavement grow long. People look smaller than usual. No one is really there. Everyone is going somewhere, caught between motion and standstill. Voices fade, suitcase wheels clack on tile. Doors open without resistance.

Nothing smells like the world here, even though the world begins here.

Everything is transition. Airports are cathedrals of the in-between. Airports turn us into shadows. Glassy emptiness where people are scanned and exposed. You empty your pockets, show your shoes. Belt off. Laptop out. Hands up. Metal, light, X-ray, signs. Then you’re allowed to move on.

If you make it through, you reward yourself under the duty-free lights: whiskey, nougat, perfume—tax-free, but still expensive. A bag of luxury for comfort.

Spotlit luxury cars sit on pedestals like in a futuristic temple. No one looks. No one knows why they’re there. Maybe because no one asks.

People drift through the halls. Coffee in one hand, phone in the other. Children squeal. Men in suits check their watches. A screen flickers. The gate still unnamed.



Waiting becomes a pastime. You do nothing and still feel tired.

We’re on our way—but to where?


 

Transit

Flughäfen sind Versprechen und Verlorensein zugleich. Orte ohne Bleibe, gebaut aus Glas, Beton und Klimaanlagen. Man wartet, immer wartet man – auf Flüge, Anschluss, Ankunft, auf einen Kaffee, der nach nichts schmeckt.

18. März 2025

Sahara in the Atlantic

 


The wind carries fine dust, not from here. The sun casts long shadows on the hills. Volcanic ash, lava gravel, sparse shrubs clinging where nothing else will grow. The Atlantic rolls onto the shore in long waves.

2. Januar 2025

Das Jahr begann grau

Der Himmel war schwer und wolkenverhangen, die Luft feucht und kalt. Es war einer dieser Tage, an denen die Welt wie in Watte gehüllt scheint, ohne dass sie wärmer wird. Es war der erste Tag des Jahres 2025.