Ich stand kurz nach vier auf, nahm
meinen gepackten Rucksack (Landkarte, Paß, Kameras, Notizbuch) und
schlich mich aus dem Hotelzimmer. Ich ging am Revolutionsmuseum mit
dem Granma-Memorial und der ewigen Flamme vorbei, marschierte die calle
Aguacate nach rechts bis zur Obispo hinunter, dann nach links am
Hotel Ambos Mundos vorbei bis zur Avenida del Puerto. Dann wieder nach
rechts, vorbei am alten Zollgebäude und der Hafenmeisterei, weiter
zum Fähranleger.
Fährstation La Habana Vieja |
Wenn der öffentliche Nahverkehr in Havanna zum Erliegen kommt - die Fähren nach La Regla und Casa blanca am Ostufer der Bahía de la Habana fahren immer noch. Es gibt strenge Sicherheitskontrollen, aber zwischen fünf und halb sechs sind sie noch nicht übertrieben streng. Es gab in der Vergangenheit Versuche, eine Fähre nach Miami zu entführen, was, wenn es geklappt hätte, eine abenteuerliche und langwierige Reise geworden wäre. Seitdem darf man keine Handfeuer- und blanken Waffen, Glasflaschen und Laptops mitführen. Das mit den Laptops habe ich nicht verstanden, denn soweit ich erkennen konnte, haben die alten Dieselbarkassen keinen USB-Anschluß.
Als
ich die Fährstation erreichte, fuhr mir mein Boot vor der Nase davon,
aber selbst mit dem nächsten kam ich noch pünktlich auf dem Bahnhof
in Casa blanca an. Was nicht kam, war der Zug. Der Fahrkartenschalter
war geschlossen, jemand hatte, soweit ich das im Dunkeln entziffern
konnte, auf ein Schild geschrieben: »no hay tren hasta ...«. Der Rest
war nicht zu lesen. Es sah ein bißchen aus wie: »Es fährt kein Zug vor
neun.«
La Bahía de la Habana, 17. Feb. 2012 |
Ich
wartete eine Weile gemeinsam mit einem Dutzend Einheimischer (die
wichtigere Termine hatten als ich und sichtlich nervös wurden). Nach
einer halben Stunde fuhr ich zurück in die Stadt So sah ich den
Sonnenaufgang über der Bucht, dem natürlichen Hafen von Havanna. Ich
schlenderte an den Kais entlang zurück ins Hotel, frühstückte, drehte
noch eine Runde durch Centro Habana und Habana Vieja, kaufte die Granma
und zwei Zigarren, das Stück für einen kubanischen Peso, den Gegenwert
von vier Eurocent. Die Polizisten am Fähranleger in Havanna Vieja
waren sich ziemlich sicher, daß der Zugverkehr wieder rollen würde, also
versuchte ich mein Glück aufs Neue mit dem Mittagszug.
Ich
wollte den Kräutermann in Arcos de Canasí besuchen. Vor ein paar
Tagen hatte ich ihn auf der Fähre kennengelernt: Ein kleiner, von der
Sonne verschrumpelter alter Bauer aus der Gegend um Matanzas. Früher
hatte er als Vorsitzender einer Bananenkooperative gearbeitet, jetzt
war er pensioniert und kam jeden Tag mit dem Frühzug von Canasí nach
Havanna, um auf dem Markt Medizinkräuter zu verkaufen. Für die hundert
Kilometer brauchte der Zug, wenn er denn fuhr, ganze drei Stunden. »
Wenn du nach Canasí kommst, frag nach dem hierbero«, sagte er, dem
Kräutermann.
Der
Alte strahlte die ganze Zeit. Nun, er hatte eine Menge Sonne
abgekriegt in seinem Leben. »Schau dich um«, sagte er. »Das ist einer
der schönsten Flecken auf Gottes Erde. Wir Kubaner sind eine Mischung
von allem: Spanier, Afrikaner, Chinesen. Und alle ganz entspannt. Auf
Kuba gibt es keine Rassendiskrimierung.«
Zwei
Tage später traf ich ihn wieder auf der Fähre. Am Tag zuvor hatte ich
dem kubanischen Fernsehen ein Interview gegeben, in dem ich mich für
die Freilassung der fünf in den USA verurteilten kubanischen Agenten
ausgesprochen hatte, die seit 1998 in Miami im Strafvollzug sitzen. Sie
hatten in den 90ern terroristische Exilgruppen unterwandert, um
Anschläge auf touristische Einrichtungen auf der Insel zu verhindern.
Ihre Informationen hatten sie später dem FBI übergeben, das daraufhin
eine Bombenwerkstatt hochnahm. Trotzdem wurden die fünf zu
unverhältnismäßig hohen Gefängnisstrafen verurteilt. »Ich hab dich in
den Nachrichten gesehen«, begüßte mich der Kräutermann am nächsten Tag,
strahlend wie immer.
»War`s okay, oder hab`ich Blödsinn erzählt?«, wollte ich wissen.
»Das war eine sehr gute Intervention«, sagte er.
Er
hatte mich eingeladen, sein Dorf zu besuchen. 1958 hatte er als
Guerrillero mit dem M-26-7 in den Bergen gekämpft. Als ich sah, wie
behende der alte Mann mit seinem Rucksack vom Boot kletterte, glaubte
ich ihm aufs Wort. Ich versprach, ihn am nächsten Tag zu besuchen.
Der
Fahrkartenschalter war immer noch geschlossen. Drinnen klingelte
ununterbrochen ein Telefon. Es hatte am Morgen schon geklingelt, und so
ging es vermutlich schon den ganzen Tag. Jetzt, in der Mittagssonne,
konnte ich die Schrift auf dem Schild in Gänze entziffern: »no hay
tren hasta nuevo aviso«, stand da: »Kein Zug bis zu neuer Auskunft«.
Zehn Meter neben dem Bahnsteig verkaufte eine Frau Kuchen aus einem
Kiosk. »Haben Sie eine Idee, ob hier heute noch ein Zug fährt?«,
fragte ich.
»Fragen Sie mal am Fahrkartenschalter«, sagte sie.
»Der Schalter ist schon den ganzen Tag geschlossen«, sagte ich. »Da gibt`s niemanden, den man fragen kann.«
Kein Zug bis zu neuer Ansage |
Auf
dem Bahnsteig saß ein Bauarbeiter, einer von der schwärzesten Sorte,
wie man sie in Habana Vieja, Centro und Regla trifft. » Was glaubst
du«, fragte ich, »wann kommt der neue aviso?«
»Kann in einer Stunde sein«, sagte er. »Oder morgen. Kann in vierzehn Tagen sein oder in einem Jahr.«
»Ich werd`mal ein bißchen warten.«, sagte ich. »Auf Kuba braucht man vor allem Geduld.«
»Auf Kuba ist alles schwierig«, sagte er, »und nichts einfach.«
Er
arbeitete seit Januar auf einer Baustelle ein paar hundert Meter
weiter in einer Fabrik. Einen Arbeitsvertrag hatte er noch nicht. »Der
Chef hat uns 300 Pesos versprochen, aber wie`s aussieht, will er jetzt
nur 250 zahlen.«
»In der Woche?«, fragte ich.
»Monatlich.«
250 kubanische Pesos (CUP) sind ungefähr zehn Euro oder knapp 13
konvertible Pesos (CUC). Man muß natürlich bedenken, daß die Kubaner
keine Miete und Krankenversicherung zahlen.
»Passiert sowas öfter, daß man keine schriftlichen Arbeitsverträge bekommt und beim Lohn über den Tisch gezogen wird?«
»Ist
hier wie überall auf der Welt«, sagte der Arbeiter. »Wenn du Geld
hast, hast du keine Probleme, aber wenn du für dein Geld arbeiten
mußt, fangen die Schwierigkeiten an.«
»Gibt es keine Behörden, die die Einhaltung der Arbeiterrechte überwachen – Verträge, Gesetze, Arbeitsschutz, Lohn?«
»Behörden gibt`s«, antwortete er. »Aber ich hab noch nicht gesehen, daß die etwas überwachen.«
»Eine Frage«, sagte ich. »Auf Kuba hat theoretisch die Arbeiterklasse die Macht.«
»Ja«, sagte er. »In der Theorie ist das so.«
Er
verabschiedete sich (seine Mittagspause war vorbei) und ging
gemächlich an seine Arbeit. Ich packte meine Sachen und marschierte
fünf Kilometer. Ich kletterte einen Berg hoch und wieder runter. Ich
passierte das erste Haus, das Che Guevara auf Kuba bewohnt hatte. Im
Garten grasten ein paar Ziegen. Das schlichte Anwesen ist heute ein
Museum, und zwei uniformierte Frauen wollten mich für sechs konvertible
Pesos hineinlassen. Ich versprach, später wiederzukommen. An der
Autobahn erwischte ich einen Bus zu den Playas del Este, den sechsten,
nachdem fünf hoffnungslos überfüllte vorbeigefahren waren. Dummerweise
fuhr der Bus heute mit veränderter Linienführung, was ich daran
bemerkte, daß er plötzlich auf eine Ausfallstraße einbog, die ins
Landesinnere führte. Ich stieg um auf einen russischen Ural-LKW, der
mich bis Guanabo brachte, 27 Kilometer östlich von Havanna. Die Halte
stelle lag nur zweihundert Meter vom Strand. Unten zog ich die Schuhe
aus und ging ein Stück weiter Richtung Osten. Zum ersten Mal seit
meiner Ankunft auf Kuba am 6. Februar sprang ich ins Wasser und schwamm
eine Runde im karibischen Meer. Ein paar Männer fischten mit der tarraya,
einem kreisrunden Wurfnetz, an dessen Rand kleine Gewichte befestigt
sind. Ein vielleicht vierjähriger Junge spielte mit einer angespülten
Portugiesischen Galeere, einer giftigen Nesselqualle. »Bengel«, schrie
ich, »faß die nicht an!« Es war das erste und bislang einzige Mal, daß
ich mich in kubanische Angelegenheiten eingemischt habe, die Sache
mit den fünf Agenten nicht eingerechnet. Ich setzte mich unter eine
Kokospalme, zündete eine Zigarre an und vertiefte mich ins Studium der
Granma.
Mit Granma ("Oma") unter der Palme |