Von Jörn Boewe, Havanna, junge Welt, 16. Feb. 2012
An die hundert Leute haben sich am letzten Samstag abend in einen kleinen Saal in der früheren Kommandantur Che Guevaras in Havanna gequetscht. Enrique Ubieta Gómez, Herausgeber der populären Kulturzeitschrift La Calle del Medio und zweifellos einer der agilsten politischen Intellektuellen des Landes, stellt sein neues Buch vor.
Depósito de cerveza fría, La Habana Luyano |
Der Titel irritiert zunächst: »Kuba: Revolution oder Reform?« Plan oder Markt, Staat oder Privat, Demokratie oder Diktatur – all das wäre auf den ersten Blick näherliegend. Aber Ubieta setzt Themen, und als mit allen Wassern des Postmodernismus gewaschener Kulturwissenschaftler kriegt er jedesmal die Kurve, egal, aus welcher Einflugschneise er zu seinen intellektuellen Loopings ansetzt.
Ubietas These: Ohne eine »Revolution in der Revolution« sei der Sozialismus auf Kuba über kurz oder lang verloren. »Der gefährlichste Feind ist heute nicht der politische oder militärische. Die größte Gefahr ist heute die Reproduktion einer kapitalistischen Mentalität.« Womit er nicht auf Max Webers protestantisches Arbeitsethos anspielt, sondern auf die teilweise in Kuba um sich greifende Obsession für nordamerikanische und westeuropäische Markenprodukte aller Art.
Das Problem ist für Ubieta dabei offenkundig nicht eine solche Sehnsucht, sondern der Umstand, daß eben nicht alle gleichermaßen an die süßen Früchte herankommen. Wie sollte dies in einer postrevolutionären Gesellschaft, die die Gleichheit auf ihre Fahnen geschrieben und in weiten Teilen auch verwirklicht hat, kein Politikum sein? Tatsächlich ist der Zugang zu harter Währung im gegenwärtigen Kuba weniger egalitär als hierarchisch verteilt. Vor diesem Hintergrund wird der Konsum von Markenprodukten à la Gillette, Palmolive, L’Oreal, Vichy, etc., das demonstrative »Es-sich-leisten-können«, zu einer Strategie sozialen Statusgewinns.
Als Beispiel untersucht Ubieta in seinem Buch die kubanische Subkultur der »Miquis«, das Gegenstück zu den mexikanischen »Fresas« oder spanischen »Pijos«: »Kinder aus Familien mit größeren Ressourcen, die besessen von Mode und Markenkleidung sind« und »Techno-, House- oder Discomusik hören, aber auch jeden anderen Musikstil akzeptieren – sogar den ›Reguetón‹ –, sofern er in den größeren internationalen Verkaufshitparaden auftaucht«. Erst das Erscheinen des Reguetón in den internationalen Charts machte ihn jedoch für die Miquis respektabel, denn grundsätzlich gilt er als Musik der »Reparteros« oder »Repas«: Jugendlicher aus bescheidenen Verhältnissen, »Kinder von Eltern (oder selbst Eltern) ohne qualifizierten Beruf und mit geringeren Einkommen und schlechteren Lebensbedingungen«.
Ubieta weist in seinem Buch weiter darauf hin, daß im Verhältnis von »Miquis« und »Repas« heute eine soziale und kulturelle Spaltung wieder auftaucht, die es bereits in den 60er Jahren gab, auch wenn die entsprechenen Gruppen damals als »Pepillos« und »Guapos« oder »Cheos« bezeichnet wurden. Bemerkenswert ist dabei, daß die Revolution die sozialen Ungleichheiten, die diesen kulturellen Differenzierungen zugrunde liegen, lange Zeit abschwächte. Dies hat sich mit der Duchsetzung des Systems der doppelten Währung – kubanischer Peso/konvertibler Peso – grundlegend geändert.
Ubieta legt kein politisches Programm vor, doch im kulturellen Kontext der kapitalistischen Globalisierung des 21. Jahrhunderts insisitiert er auf eine Rückbesinnung auf die solidarischen, internationalistischen und antiimperialistischen Werte von Martí und Guevara. »Die Verteidigung der Revolution wird nur möglich sein, wenn wir unsere sozialistische Identität als unsere ureigene Individualität begreifen und behaupten«, resümierte er vor seinen dichtgedrängten Zuhörern in der Commandancia del Che. Aber letztendlich, kubanische Identität hin oder her: Auf mittlere Sicht wird die Revolution international sein, oder sie wird nicht sein. »Dabei ist es nicht so wichtig«, schreibt er im Schlußwort eines Buches, »daß die revolutionären Parteien in Inkohärenz und Spaltung ersticken. Der Funke eines neuen 68 verbreitet sich auf der trockenen Wiese des Kapitalismus.«
Enrique Ubieta Gómez: Cuba: Revolución o reforma?. Casa Editora Abril, Havanna 2012, 204 S., 18 CUP
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